Dienstag, 27. Januar 2015

Zeitzeugen sprechen über Auschwitz (1): Ankunft und Selektion


Der folgende Text ist ein kurzer Auszug aus der Zeugenaussage des Arztes und Holocaust-Überlebenden Dr. Mauritius Berner, die im Rahmen des sogenannten 1. Frankfurter Auschwitzprozesses am 17.08.1964 dokumentiert wurde. Die komplette Aussage kann - ebenso wie unzählige weitere Zeugenaussagen - auf den Seiten des Fritz-Bauer-Instituts nachgelesen und auch im Original angehört werden.

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Man hatte die [...] Riegel [des Waggons] geöffnet. Wir haben rasch unseren Kindern, unseren Frauen die Mäntelchen noch angezogen. Und mit den Resten unseres Gepäckes – man hat uns doch auch am Wege ein paarmal schon untersucht und immer alles weggenommen, auch das letzte Stück Keks, was wir für die Kinder aufbewahrt haben – sind wir ausgestiegen.

Sofort, wie wir ausgestiegen sind, ist vor unseren Augen ein fürchterliches Bild: An dem Geleise vis-à-vis stand ein verlassener Zug. Und vor dem Zug, vor den Waggonen, Hunderte und Tausende von Reisegepäcken, aufeinandergestapelt. Ich wusste nicht, wo wir sind. Ich dachte, es ist vielleicht ein ausbombardiertes Stationshaus oder so etwas.

Aber wir hatten keine Zeit nachzudenken. Sofort sind an uns in gestreiften, zebraähnlichen Anzügen Leute [...] herangetreten und haben uns aufgefordert, das Gepäck neben den Waggonen abzulegen. Wir sträubten uns noch dagegen. Es war noch unser letztes Hab und Gut, eigentlich nur mehr ein paar Medikamente und unsere Dokumente in den Reisekoffern, in dem Gepäck. Aber wir wollten es noch nicht [hergeben]. Da riss man uns das aus der Hand, besser gesagt ist ein deutscher Soldat an uns herangetreten und hat auch gesagt: "Das Gepäck muss hier abgegeben werden." Daraufhin haben wir das dort abgegeben, neben den Waggonen aufgestellt.

Und der Strom der Menschen ging vorwärts, und ich sagte [zu] meiner Frau – ich war mit Frau und drei Kindern, drei Töchterchen: "Tut nichts. Hauptsache, dass wir fünf zusammen sind." Und: "Wir werden schon sehen, wie wir weiterkommen." Kaum sagte ich das, tritt schon ein anderer Soldat zwischen uns und sagt: "Männer nach rechts, Frauen nach links!" und hat uns voneinander [getrennt]. Ich habe nicht einmal so viel Zeit gehabt, meine Frau zu umarmen. Sie hat mir nachgeschrien: "Komm, küsse uns!" Vielleicht aus irgendeinem Fraueninstinkt hat sie eher gefühlt, was für eine Gefahr uns droht.

Ich bin durch den Kordon wieder zu ihnen gelaufen, habe meine Frau geküsst und meine drei Kinder. Und schon wieder hat man mich auf die andere Seite geschoben, und wir sind weiter vorangegangen – parallel zwar, aber getrennt. Zwischen den zwei Gleisen, zwischen den zwei Zügen, parallel, aber getrennt. Dann, [...] die Menge hat mich auch weitergestoßen, habe ich sie [aus den] Augen verloren, meine Familie.

[...]

Inzwischen ist Mengele von uns weggegangen, und wir sahen, dass, so wie er steht – unweit von uns, 20, 30 Meter entfernt –, die Menge ihm gegenüber strömt und er mit seiner Hand nach rechts und nach links deutet. Und so gehen einige Menschen nach rechts und einige nach links, Frauen und Kinder zusammen nach links.

Auf einmal sehe ich meine Frau und meine drei Kinder schon von Mengele weiter entfernt gehen. Und es fällt mir ein: Ich werde dem Doktor Capesius eine Bitte vorlegen. Ich bin zu ihm herangetreten, und ich sage ihm: "Herr Hauptmann", ich habe die Distinktionen nicht gekannt, "ich habe zwei Zwillingskinder, die bedürfen einer größeren Schonung. Ich arbeite, was Sie wünschen, nur gestatten Sie mir, mit meiner Familie zusammenzubleiben." Ich wusste ja nicht, warum wir dort waren, wohin sie zu gehen hatten. Fragt er mich: "Zwillingskinder?" "Ja." "Wo sind sie?" Ich zeige: "Dort gehen Sie." "Rufen Sie sie zurück", sagte er mir, worauf ich meine Frau und meine Kinder, die Namen, laut rufe. Und sie kehren um, und ich zeige ihnen, sie sollen zurückkommen.

Sie kommen zurück, und sogar Doktor Capesius nahm die an der Hand, die zwei Kinder, und führt uns bis zum Doktor Mengele. Und an seinem Rücken stehengeblieben sagt er mir: "Na, sagen Sie [es] ihm." Und ich sagte wieder: "Herr Kapitän", ich wusste nicht seine Distinktion, "ich habe zwei Zwillingskinder", wollte weiter sprechen, aber er sagte mir: "Später, jetzt habe ich keine Zeit." Und mit einer abwehrenden Handbewegung hat er mich weggeschickt.

Doktor Capesius sagte: "Also dann müssen Sie zurückgehen in Ihre Reihe. Gehen Sie zurück!" Und meine Frau und meine drei Kinder sind wieder an diesem Weg weitergegangen. Ich begann zu schluchzen, und er sagte mir auf Ungarisch: "Ne sírjon. Weinen Sie nicht. Die gehen nur baden. In einer Stunde werden Sie sich wiedersehen." Da schrie ich noch meiner Frau und meinen Kindern ungarisch nach und bin wieder zu meiner Gruppe zurückgegangen. Nie habe ich sie mehr gesehen.

In dieser Sekunde war ich dem Doktor Capesius sogar in der Seele dankbar. Ich dachte, er wollte mir etwas Gutes tun. [Erst] später habe ich erfahren, was das bedeutet hat, Zwillingskinder dem Doktor Mengele in die Hand zu geben zu seinen Experimenten.

[...]

Ich bin zu meiner Gruppe, zu den Ärzten und Apothekern, zurückgegangen. Wir waren noch ein paar Minuten dort gestanden. Dann hat man uns auch in Fünferreihen aufgestellt, und so einer im gestreiften Anzug – jetzt weiß ich schon, dass das alte Häftlinge waren, damals wusste ich [es] nicht – und ein deutscher Soldat haben uns weitergeführt in eine große Scheune. Dort mussten wir uns nackt ausziehen. Nur die Schuhe durften wir behalten. Dann, auf einem freien Platz, haben uns Friseure empfangen, haben uns die Haare geschnitten und ganz enthaart.

Und dann hat man uns weitergeführt in das Bad, Sauna dort genannt. Dort hat man uns noch einmal ganz rasiert, so dass kein Haar an unseren Körpern blieb. Und durch ein desinfizierendes Mittel [haben wir] barfuß hinübergehen und den Kopf damit auch abwaschen müssen. Und in einem Ankleideraum haben wir dann die gestreiften Anzüge bekommen, einen Rock, ein paar Hosen und ein Hemd. Unterhosen haben wir nicht bekommen.

Und dann hat man uns hinausgeführt ins Freie. Und dort haben wir gewartet – das war in der Früh – bis circa Nachmittag, also wir haben schon kein Zeitempfinden [mehr] gehabt. Lange, lange Zeit haben wir dort gewartet. Wir sind schon fast zusammengebrochen. Und dann ist ein Mann mit der Aufschrift "Block", ich weiß nicht, 20 oder 21, gekommen und hat uns weitergeführt und in einen Block hineingelassen, wo wir dann angeblich Kaffee zum Trinken zu bekommen hätten.

Es war ein [fürchterlicher] Tumult, wie man uns dort hineingelassen hat. Man hat uns inzwischen schon geschlagen. Und weil jeder sich eilte, diesen Kaffee zu bekommen, weil wir doch viereinhalb Tage, den fünften Tag schon, keinen Tropfen Wasser im Mund hatten. Und dann hat man auch wirklich irgendein Fass gebracht, einen schwarzen Kaffee, was man dort verteilt hat. Aber es war ein fürchterlicher Tumult. Die Menschen haben sich gegenseitig geschlagen sogar. Und da haben wir das Leben eines Häftlings begonnen.

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Lager



(Gemälde von Sigmar Polke [1941-2010] aus dem Jahr 1982. Dispersion und gestreute Pigmente auf Dekostoff und Wolldecke, Privatbesitz [sic!])

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Siehe auch: Die Kinder von Izieu - hier der funktionierende Direktlink zum Video. In der Regel benötigt das Video in beiden Links eine Weile, bis es geladen ist und startet - Geduld ist nötig.

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