Freitag, 15. April 2016

Buchempfehlung: Tower of Glass


Am Anfang war Krug

und er sprach: "Es seien Retorten", und da waren Retorten.
Und Krug betrachtete die Retorten und fand sie gut.
Und Krug sprach: "Es seien Nukleotiden in den Retorten." Und die Nukleotiden wurden in die Retorten gegossen, und Krug mischte sie, bis sie sich miteinander verbanden.
Und die Nukleotiden bildeten die großen Moleküle, und Krug sprach: "Es werde der Vater und werde die Mutter in den Retorten, und es teilen sich die Zellen, und Leben entstehe in den Retorten."
Und es ward Leben, denn da war Reproduktion.
Und hierfür sei Krug gepriesen.

So beginnt der dystopische Roman "Tower of Glass" von Robert Silverberg, der in fesselnder, artistischer und äußerst bedrückender Weise davon erzählt, wie aus einer kapitalistischen Vorhölle innerhalb kurzer Zeit eine religiöse, kapitalistische Hölle jenseits des zuvor Denkbaren wird. Silverberg hat in diesem meisterhaften Roman die nicht erst heute sichtbar werdenden Dogmen des Kapitalismus, der letzten Endes nichts anderes als Religion ist, konsequent weitergedacht. Ich zitiere der Einfachheit halber aus dem Klappentext:

"Man schreibt das Jahr 2218 nach Christus, doch die Gebete der Hungernden und Dürstenden dieser Erde gelten Krug.

Über der arktischen Tundra erhebt sich ein riesiger Glasturm, eine gigantische Sendeanlage, mit der man die Signale beantworten will, die man seit einiger Zeit aus den Tiefen der Galaxis empfängt.

Krug, der größte und erfolgreichste Unternehmer der Wirtschaftsgeschichte, bezahlt das Projekt aus eigener Tasche. Es ist sein Hobby, er kann es sich leisten. Er persönlich will den fernen Bewohnern fremder Welten vom Ruhm des Menschen künden, der es vom Geschöpf zum Schöpfer gebracht hat.

Krug, vormals ein genialer Biochemiker, hat das Monopol auf die Herstellung von Androiden. Und er hat mit seiner Erfindung und dem Absatz seiner 'Produkte' wahrhaft eine neue Welt geschaffen, einen Albtraum von einer Welt, in der menschenähnliche Wesen, genetisch manipuliert, durch künstliche Befruchtung als Massenware produziert, in Retorten aufgezogen werden. Es sind friedfertige Zeitgenossen, fleißig und bescheiden, konditioniert fürs Existenzminimum und fürs kleine Glück, ideal angepasst. Und doch beten sie. Sie beten heimlich zu ihrem Schöpfer, dass er sie eines Tages erlösen möge.

Mehr und mehr sieht sich Krug in eine gottähnliche Stellung gedrängt, der er nicht gewachsen ist, ja - noch schlimmer - die er nicht einmal begreift.

Und doch gehen die Gebete der Androiden in Erfüllung - oder gerade deshalb."

In diesem Buch verschmelzen Kaptalismus- und Religionskritik zu einer homogenen Einheit, die sie tatsächlich auch sind. Ich habe den fantastischen Roman zum ersten Mal seinerzeit in einer einzigen, durchwachten Nacht durchgelesen und danach nie wieder vergessen. Hinweisen möchte ich an dieser Stelle aber auch auf Silverbergs Roman "To Live Again" (dt. "Die Seelenbank" oder "Noch einmal leben") aus dem Jahr 1971, der das Thema des vorherigen Postings, "Die Unsterblichkeits-Formel", behandelt.

Es ist mehr als erschreckend, dass auch 46 Jahre nach der Erstveröffentlichung dieses Buches der Religiotismus nicht nur nicht gebannt ist, sondern sich sogar erneut in der Krebsphase des unaufhaltsamen Wachstums befindet. Was treibt Menschen bloß dazu, ihr Heil in irgendwelchen obskuren magischen, esoterischen Gefilden zu suchen, anstatt die Augen zu öffnen und für eine Verbesserung des Lebens für alle im Hier und Jetzt - dem einzigen Leben, das Menschen haben - einzutreten? Wie beliebig und gleichzeitig zerstörerisch und gefährlich Religiotismus ist, veranschaulicht Silverbergs Roman aufs Deutlichste.



(Robert Silverberg [*1935]: "Tower of Glass", 1970; dt. "Kinder der Retorte", Heyne 1975)

7 Kommentare:

altautonomer hat gesagt…

Charlie: "Was treibt Menschen bloß dazu, ihr Heil in irgendwelchen obskuren magischen, esoterischen Gefilden zu suchen, anstatt die Augen zu öffnen und für eine Verbesserung des Lebens für alle im Hier und Jetzt - dem einzigen Leben, das Menschen haben - einzutreten? "

Herr Rottenfußer bedient sich als manchmal rechtsdrehender Bad-Cop bei HdS neben informellen und sachlichen Alibi-Texten immer wieder leidenschaftlich einem antiaufklärerischen und wissenschaftsfeindlichen Vokabular im Rahmen haarsträubender und ihn damit als Esoteriker entlarvendwen Ideologien."Alles fließt", "Loslassen", "Achtsamkeit", "Liebendes Schweigen", "Ganzheitlichkeit", "ZEN, die Kunst des Weglassens" (rr: "Ein Sesshin ist ein längeres Meditationsseminar der Zen-Tradition. Man sitzt 15mal eine halbe Stunde pro Tag in Stille."), "Die Seele der Pflanzen" (ein ganz übler Bockmist. Das alles ist nichts anderes, als verbale Eckpfeiler der Esoterik.

Damit zu Deiner Frage. Wer, wie z. B. Satre, die Illusionen, seien sie nun aufklärerischer, wissenschaftlicher oder ideologischer Art, wegräumt, macht Angst, weil plötzlich nichts mehr da ist, was die beruhigende Realität verschleiern hilft. Dann tritt rr auf den Plan und bietet Religionsersatz.

Ich bin kein Roboter hat gesagt…

Wow, der Buchtipp klingt super! Vielen Dank!

Charlie hat gesagt…

Wie immer bei ernsthafter Science Fiction gilt auch hier, dass weniger die Zukunft, sondern vielmehr die Gegenwart Gegenstand des Inhalts ist. Man lese dieses Buch als Allegorie auf unsere Realität.

@ altauto: Zu Sartre bereite ich schon seit längerem einen Beitrag vor. Das ist etwas aufwändiger als den Faulfuß und seine Gesellen ins Lächerliche zu ziehen, wo sie hingehören. ;-)

Abgesehen von den Eso-Spinnern gibt es ja noch reichlich andere religiös motivierte Menschen, die der Realität entfliehen wollen, indem sie hanebüchenen Szenarien anhängen, die allesamt in erster Linie dazu dienen, den Widerstand in der tatsächlichen Welt zu minimieren. Dass Platta das nicht erkennen will, hängt vermutlich mit seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit vom JdR-Komplex zusammen - mir haben diese Gestalten vor geraumer Zeit ja auch angeboten bzw. nachdrücklich nahegelegt, mich in ihren Dienst zu stellen (das ist ausnahmsweise keine Satire). Mein Gewissen war glücklicherweise zu diesem Zeitpunkt stark genug, ein deutliches "Nein!" zu formulieren. Wenn diese Leute mich damals in einer akuten Notsituation erwischt hätten, wäre ich heute womöglich selber ein Teil dieser bigotten Veranstaltung.

Derlei korrumpierte Figuren findet man auch im Roman von Silverberg, der vor 46 Jahren offenbar eine Zeitmaschine besaß und im Jahr 2016 nachgeschaut hat, wie religiöse Sekten in dieser Zeit agieren. Es ist wahrlich gruselig.

Liebe Grüße!

EutinOH hat gesagt…

@Charlie
Danke für den Tipp, werde ich mir gleich heute Abend auf mein Lesegerät laden. Das Buch habe ich sogar schon auf der Festplatte, leider aber noch nicht gelesen. Von Robert Silverberg gibt es ja jede Menge Bücher, wobei nicht alle, jedoch einige, sehr gut sind.

mfG

EutinOH

Fluchtwagenfahrer hat gesagt…

Moin Charlie,
siehste mal wieder eine Gemeinsamkeit mehr. R. Silverberg gehört auch zu einem meiner Lieblingsautoren. Schon erstaunlich wieviele SF-Autoren vor 60-80 Jahren eine ziemlich präzise Vorstellung hatten was möglich ist.

LG
& ein schönes WE

EutinOH hat gesagt…

Das wirklich erschütternde nach der Lektüre dieses Buches war, das ich mir eingestehen musste, zum Ende des Buches Mitleid zu haben mit Krug. Obwohl ich das Buch jetzt nicht so als den “Renner“ der Science Fiktion Literatur bezeichnen würde, ist es sehr gut geschrieben. Die Buchkritik von Charlie trifft es im Kern, sie ist sehr genau und absolut objektiv, zumindest aus meiner Sicht.

mfG

EutinOH

Charlie hat gesagt…

@ EutinOH: Vielen Dank für die Rückmeldung.

Kleine Anmerkung am Rande: Kommentare zu Postings, die älter als drei Wochen sind, erscheinen wegen des generellen, automatisierten Spam-Problems nicht sofort, sondern müssen von mir erst freigeschaltet werden. Ansonsten käme ich mit dem Löschen der stumpfsinnigen Robot-Reklame gar nicht mehr nach.

Liebe Grüße!