Dienstag, 8. November 2016

Antikommunistische Propaganda in einer kommunismusfreien Zeit


Ich bin im Laufe meines Lebens sehr gerne und sehr viel verreist. Es hat mich schon immer in die "weite Welt" gezogen, und ich durfte schon in jungen Jahren weite Teile von Europa kennen lernen. Später folgten der nahe Osten, Teile von Afrika und Südamerika, und in ganz besonderer Erinnerung wird mir stets die lange Reise mit der transsibirischen Eisenbahn bleiben, die mich von Moskau bis in die weit entlegenen Gebiete des nordöstlichen Russlands geführt hat. Darüber ließe sich ein ganzes Buch schreiben.

Entsprechend gerne lese ich hin und wieder Reiseberichte oder Reiseempfehlungen, die ich im Internet finde. So stieß ich kürzlich auf einen n-tv-Artikel, in dem eine Dame ihre Erlebnisse in Moskau beschrieb - und musste gleich mehrmals schlucken, als ich den folgenden Absatz las:

Wer auch einmal abseits der touristischen Orte links und rechts schaut, der erkennt in Moskau aber nicht nur Prunk und Luxus. Auch Armut ist an vielen Ecken sichtbar - hochschwangere Frauen betteln am Wegesrand, alte Mütterchen verkaufen Pilze und Gemüse, um ein paar Rubel einzunehmen. Sie sitzen direkt auf der Straße neben den Metrostationen. Nur wenige Kilometer vom Prachtzentrum scheint die Zeit im Kommunismus stehen geblieben zu sein, zumindest im manchen Teilen der Region Moskau. Verarmte Gegenden, Betonklötze, die man nur als ziemlich hässlich beschreiben kann. Sie stehen im krassen Gegensatz zur Schönheit, die Moskau an vielen Stellen bietet.

"Beim Barte des Propheten!", dachte ich mir - und fragte mich, ob die Dame entsprechende Passagen wohl auch über New York, Seattle, Paris, Madrid oder Essen geschrieben hätte? Denn dort gibt es selbstverständlich auch Armuts- oder gar Obdachlosenviertel, in denen Menschen tagtäglich ums pure Überleben kämpfen müssen, während ein paar Straßenzüge nebenan der architektonische Prunk vergangener Jahrhunderte zu bestaunen ist und gut situierte BürgerInnen im perversen Konsumrausch zombiegleich durch die kapitalistischen Glitzerfassaden schwanken. Wie kommt die Dame darauf, in Moskau sei der seit vielen Jahren abgeschaffte "Kommunismus" (den es ohnehin nie wirklich gab) daran schuld, während in New York - streng nach der neoliberalen Glaubenslehre - die betroffenen Menschen selbst schuld an ihrem Los und am Zerfall ihrer Stadtviertel seien?

Man kann in diesem propagandistisch verseuchten Land nicht einmal mehr einen albernen Reisebericht lesen, ohne immer und immer wieder auf dieselben antikommunistischen Dogmen zu treffen. Es wird nicht einmal mehr hinterfragt, ob das "alte Mütterchen" oder die "hochschwangere Frau" (*oh, diese Schmerzen!*), die da in emotionaler, eindimensionaler Hollywood-Manier bemüht werden, im Kommunismus vielleicht doch etwas besser gestellt gewesen wären - und ob nicht viel eher der menschenfressende Kapitalismus als Ursache für deren heutiges Elend zu benennen sei.

Solche Fragen stellt man im Propagandistan der kapitalistischen Heilslehre nicht.


(Obdachloser in einer New Yorker "Metro-Station")

5 Kommentare:

MT hat gesagt…

Die Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn, das war auch immer ein Traum von mir. Würde ich unheimlich gerne mal machen. Aber dann richtig mit Umsteigen nach China :-)

Troptard hat gesagt…

Das ist der eindimensionale Blick, den der Westmensch sich gerne zulegt.

So ist eine Verwandte meiner Besten nach dem Mauerfall in die ehemalige gereist und hat anschliessend mit grossem Entsetzen darüber berichtet, wie verwahrlost und heruntergekommen sie das alles gesehen hat. Also die Bestätigung dafür, welches Leid die dortigen Kommunisten ihrer Bevölkerung angetan haben.

Nun mag sich der Tourist ausserhalb des grossen Boulevard in Avignon nicht bewegen.
Würde er sich 500 Meter mit seinen fusskranken Beinen dort hinwagen, so würde er genau die Eindrücke gewinnen können, die er gerne dort macht, wo er sie für angemessen hält. Häuser, wo kaum noch Putz an den Wänden zu sehen ist,
und Fensterrahmen, die kaum noch das Glas halten.

Hierhin verirrt sich keiner freiwillig! Und was man eben nicht sieht, das existiert auch nicht. Oder die langen Strassenzüge mit den Betonbauten, die Sozialwohnungen (HLM), wo vorzugsweise Nordafrikaner oder verarmte Franzosen leben.

Wenn man dann mal in Richtung Avignon auf der Nationalstrasse fährt und die Augen nach rechts und links bewegt, ja dann müsste der aufmerksame Mensch auch die vielen Prostituierten sehen, die da an den Strassenrändern auf ihren kleinen Hockern sitzen und auf Freier warten, so positioniert, damit die Gendamerie sie nicht gleich entdeckt, wenn diese auf Streife geht und sie vertreiben will.

Macht doch kein gutes Bild für die Touristen. Auch die vielen heruntergekommen Menschen, die sich im Zentrum niederlassen wollen und um ein Geldstück betteln.

Wenn ich jetzt ganz verquer denken sollte, so macht das für viele unserer Bürger sogar den exotischen Charme des Kapitalismus aus, was ihnen in anderen Weltregionen
als nicht hinzunehmendes Ergebnis von korrupter Herrschaft und als Mangel an einer effizienten Marktwirtschaft ausgelegt werden würde.

Charlie hat gesagt…

@ MT: Meine damalige Reisebegleitung und ich hatten ursprünglich vor, von Wladiwostok nach Japan überzusetzen. Leider war das zu jener Zeit aus diversen Gründen noch nicht möglich. Allerdings war die Rückreise nach Moskau noch wesentlich abenteuerlicher als es jeder Besuch in Japan hätte werden können. ;-)

Liebe Grüße!

Charlie hat gesagt…

@ Troptard: Das hast Du sehr anschaulich zusammengefasst, vielen Dank. Ich frage mich ja, woran das wohl liegt, dass nicht nur "Qualitätsjournalisten", sondern auch ganz normale Menschen oftmals diese eindimensionale, völlig absurde Sichtweise pflegen und beispielsweise die riesigen Elendsviertel in kapitalistischen Mega-Städten wie Rio de Janeiro oder New York nicht mit dem Kapitalismus in Verbindung bringen, während hässliche, bröckelnde Plattenbauten in osteuropäischen Metropolen stets als "Vermächtnis des Kommunismus" identifiziert werden.

Eine Perversion wie diese aus Buenos Aires, wo eine hohe Mauer die hübschen Eigenheime (samt Swimming Pools, geprengtem Spießerrasen und natürlich asphaltierten Straßen) der "Mittelschicht" von den Slums der "Normalbevölkerung" trennt, ist schließlich nur im Kapitalismus die logische, unabwendbare Folge. Wieso wird das nicht zur Kenntnis genommen und entsprechend bewertet? Ich verstehe das nicht.

Liebe Grüße!

Fluchtwagenfahrer hat gesagt…

Moin,
bei meinen vielen beruflich bedingten Auslandsreisen(Y-Tours)bin ich in sehr vielen Häfen (an)gelandet. Da es in der Natur der Dinge liegt, befinden sich die meisten Häfen "Downtown". (Hafen auf`m Berg immer schlecht)
Nun kommt für jeden Seemann auch mal die Zeit der Muße und des exzessiven Alloholjenusses und da liebe Mitleser habe ich in Downtown zumeist in den übelsten Spelunken die geilsten Leute kennengelernt und wilde Parties gefeiert. Manchmal war es auch nicht ungefährlich aber immer noch besser als mit den anderen Offizieren in UPtown abzuhängen, Finger abzuspreizen mit nem Stock im Arsch, ach hallo Hr. Botschafter, schön sie zu sehen Plattitüden auszutauschen.
LG