Samstag, 13. Oktober 2012

Die verlorene Generation


Erinnert sich noch jemand an die 1970er Jahre? – Wer in der damaligen Bundesrepublik die Schule abschloss, dem stand die Welt offen. Wer sein Studium selbst finanzieren musste, konnte sich die Studentenjobs aussuchen, das Studium ließ sogar Zeit für politische und andere Aktivitäten, und mit dem Begriff Arbeitslosigkeit konnte man nur wenig anfangen.

Stichwort Lebensplanung: Die Zukunft schien gesichert, ja, man konnte sich sogar eine Auszeit gönnen, bevor man in das Berufsleben einstieg. Selbst jene, die aus einfachen Verhältnissen kamen, konnten studieren, die Chancengleichheit war so hoch wie nie zuvor. Und vor allem dies: Es wäre einem nie in den Sinn gekommen, dass es irgendwann anders sein könnte.

Wer heute die Schule oder die Universität verlässt, kann sich kaum vorstellen, dass ›es‹ mal anders war. Das Ausbildungssystem, welches die heutige Generation durchläuft, ist auf Wirtschaftlichkeit und Effizienz getrimmt. Das Gymnasium führt nun schon nach acht Jahren zum Abitur, das spart viel Geld. Die Universitäten sind Fabriken mit Lernnachweisen im Wochentakt, die Studienzeit ist streng reglementiert, Hörsäle überfüllt. Gleichzeitig zieht sich der Staat immer mehr aus der Finanzierung des Bildungswesens zurück, Bildungsreform ist nur noch ein Synonym für Sparmaßnahmen.

(Weiterlesen)

Anmerkung: Ich fürchte, dass es sich nicht bloß um eine einzige Generation handeln wird, die wir mit dem hässlichen Wort "verloren" belegen müssen - ansonsten ist dieser kleine Text aber eine wunderbare Demontage des albernen Mythos', dass einjeder seines Glückes Schmied sei.

Es bleibt allerdings dabei, dass es auch in jener vergleichsweise frühen Phase des nach 1945 neu gestarteten Kapitalismus' bereits himmelschreiende Ungerechtigkeiten, Hunger, Not und Elend gegeben hat. Es gibt keinen "guten Kapitalismus", in dem alle Menschen fair und gleichberechtigt am vorhandenen Wohlstand teilhaben können - das schließt schon die Grundkonzeption dieses Systems aus. Heute, in der Endphase des kapitalistischen Katastrophenzyklus', werden die furchtbaren Auswirkungen lediglich stärker und schneller sichtbar, und das eben nicht mehr nur in Afrika, Südamerika oder Asien.

Eine Freundin sagte in diesem Zusammenhang kürzlich zu mir: "Eigentlich leben wir doch längst in einer Dystopie." Dem muss ich leider zustimmen und ich frage mich insgeheim, wie weit die neoliberale Bande wohl diesmal gehen wird. Angesichts der Geschichte ist mit Moral, Ethik, Empathie oder Humanismus nicht einmal ansatzweise zu rechnen.

---

Weltwirtschaftskonferenz


"Prosit, meine Herren - das Elend existiert nicht, wenn wir es nicht in unser Protokoll aufnehmen!"

(Zeichnung von Thomas Theodor Heine [1867-1948], in "Simplicissimus", Heft 8 vom 23.05.1927)

12 Kommentare:

collegeboy hat gesagt…

ich bin student. wenn ich das lese kann ich nur feststellen dass der heutige alltag an der uni nicht im entferntesten etwas damit zu tun hat wie das früher offenbar gewesen ist. zeit hat da niemand - kein studierender, aber auch kein lehrender. der druck ist allgegenwärtig. wer nicht "in time" zurechtkommt, fliegt raus. wer fragen stellt, auch.

ich bin einfach nur froh wenn ich den scheiß hinter mir habe (falls ichs schaffe). auch wenn ich jetzt schon weiß dass danach nichts besseres kommt. die schule war ein kindergarten gegen die zustände an der uni.

und die zeichnung zeigt ganz genau meine meinung, ich finde das frapierend! diese abgehobene elite merkt gar nicht mehr was sie eigentlich anrichtet. tolles blog hier, und eine absolut verschissene zeit!!!!

jakebaby hat gesagt…

"Und vor allem dies: Es wäre einem nie in den Sinn gekommen, dass es irgendwann anders sein könnte."

Solange man zu dieser Generation zaehlt, musste?/konnte? man bis heute miterleben, dass es ganz anders werden wuerde.

Eine Kehrseite ist, dass die Generation-Kohl nicht mal 10 Jahre alt war, als Deutschland zB. Anfang '90 wieder in den Krieg zog.
Die Generation-Kohl ist heute 30, hat schon die 2te Generation-Kohl auf der Strasse, weis, kann nicht mehr wissen, " dass es irgendwann anders (war) sein könnte."

Ich wusste irgendwann, dass Es/Alles schlimmer werden wuerde.
In der Generation meiner Eltern, Grosseltern als auch zuvor wussten immer irgendwelche Wenige, dass Es schlimmer werden wuerde.
Von Schlimmer zu Schlimmer mit kleinen Verschnaufpausen. ... oder gar Keinen, je nachdem wo man sich gerade befindet .. "werden die furchtbaren Auswirkungen lediglich stärker und schneller sichtbar, und das eben nicht mehr nur in Afrika, Südamerika oder Asien."

Ja die 70ger .... in deren Mitte habe ich damals als 15jaehriger im ersten Lehrjahr mehr gemacht als ein H-4'ler Heute.
Da war ich auch als Handwerker noch mehr Wer(t).
Dafuer hatten Generationen zuvor hart gekaempft. Auch Sie zaehlen nur zu einer der Verschnaufpausen der man jetzt wieder die Luft nimmt.

Gruss
Jake



Charlie hat gesagt…

@ collegeboy:

Ich drücke Dir die Daumen, dass Du es schaffst! Die Zerstörung der europäischen Hochschullandschaften ist aber auch ein eklatantes Beispiel für den völligen Irrsinn dieses Systems, der beispielsweise in NRW vom seinerzeit zuständigen FDP-Ministerium mit dem propagandistischen Neusprech-Namen "Hochschulfreiheitsgesetz" belegt wurde. Da kommt man gar nicht mehr aus dem Augenrollen und Haareraufen heraus.

Ich begreife nicht, wieso die Unis, FHs und anderen Schulen nicht längst wieder massivst (von Studierenden, Schülern und Lehrenden) bestreikt werden, um diesen Irrsinn rückgängig zu machen. Es ist doch offensichtlich, dass heute, nach den neoliberalen Deformierungen, weniger Bildung und noch dazu schlechtere Bildung dabei herauskommt. So blöd sind die Lernenden und Lehrenden doch noch nicht, als dass sie das nicht noch immer erkennen könnten.

Die Menschen, die 1968 die denkwürdigen Prozesse in Gang gebracht haben, sind in der Regel nach dem Krieg geboren worden und haben den Wiederaufbau und das so oft heilig gepriesene "Wirtschaftswunder" miterlebt - und sind danach dennoch massenhaft auf die Straße gegangen und haben die Revolution ausgerufen - weil sie die Scheinheiligkeit, Verlogenheit und Widerwärtigkeit des Systems erkannt oder zumindest erahnt hatten.

Und heute läuft auch an den Unis ein Großteil der Menschen wie Lemminge stumpf in den Abgrund? Wieso bloß?

Charlie hat gesagt…

@ Jake:

Es dauert eben, bis man die Regelmäßigkeiten bzw. die Kontinuität dieses Zyklus' wirklich erkannt hat. Er dauert in der (bisherigen) Regel grob zwischen 60 und 100 oder 150 Jahren (tendenziell immer schneller werdend), und je nachdem, wann ein Mensch innerhalb dieses Zyklus' geboren wird, erlebt er auch ganz andere "Phasen". Ein Mensch, der beispielsweise 1900 geboren wurde und 1960 auf dem Sterbebett lagt, wird vielleicht am Ende seines Lebens festgestellt haben, dass er in einer Art Vorhölle aufgewachsen ist und danach die ausgewachsene Hölle erleben musste, bis er im (scheinbaren) Paradies oder dessen Beginn angekommen war. Das Resümee eines Menschen, der von 1870 bis 1930 oder von 1940 bis 2000 gelebt hat, sieht sicherlich völlig anders aus - wenn jeweils nur die eigenen, persönlichen Erfahrungen berücksichtigt wurden. Und dazu neigen leider viele Menschen - angefeuert durch die jeweils gültige Propaganda der Herrschenden.

Eine Kontinuität als solche zu erkennen, ist schwierig, wenn deren Spanne etwa die Zeit eines Menschenlebens oder sogar etwas mehr beträgt. Ich fürchte, dass dies eine mögliche banale Erklärung für ein schon so lange andauerndes Problem ist. Die Menschen, die beispielsweise die 1960 er und 70er Jahre bewusst erlebt haben, fangen jetzt langsam an zu sterben - in 20 oder 30 Jahren dürfte kaum jemand mehr von denen am Leben sein.

Trotzdem war immer mal wieder ja so etwas wie 1968 möglich - auch wenn das bisher immer letztlich erfolglos geblieben ist. Die Geschichte folgt keinen starren Regeln - es sind immer auch Überraschungen (positive wie negative) möglich. Vermutlich bleibt dies die letzte Hoffnung.

Liebe Grüße!

dani hat gesagt…

bildungssystem

der damalige lehrer von meinem sohn insistierte in der 3. und 4. klasse pausenlos,
ich sollte meinem kind doch ritalin geben, damit es besser "passt". nach mehrmaligen dagegenreden und einer kleiner ausfälligkeit (ich habe ihn angebrüllt), habe ich dann noch gesagt, dass ich dieses bildungssystem einfach scheiße finde. daraufhin der lehrer: ja, dann gehen sie doch auf die straße. ich: moment mal - ich denke, dass ich ihr job!!!
lehrer: ääähhh......demonstrieren ist bei uns verboten - und ich komme dann irgendwohin in die hinterste provinz - wo es gar nicht schön ist. meine antwort: keine revolution ohne opfer!!!

soviel zum thema auf die straße gehen!!!

grüßle
dani

jakebaby hat gesagt…

"Ich fürchte, dass dies eine mögliche banale Erklärung für ein schon so lange andauerndes Problem ist." ... Richtig, vor allem wenn man es nicht aufs Individuum, ein Land, sondern auf den Planeten bezieht, womit es nicht nur kontinuierlich sondern durchweg present ist.

Dir muss ich das nicht sagen. .... und ich bin gerade auf dieser Ebene http://narrenschiffsbruecke.blogspot.com/2012/10/zitat-des-tages-letzte-reise.html

Gruss
Jake

Charlie hat gesagt…

@ dani:

Das ist wieder mal so eine Geschichte, die uns ein wenig besser erklärt, wieso die Verhältnisse so sind, wie sie sind. :-( Und Du bist gewiss nicht die Einzige, die so etwas erlebt hat - aus meinem eigenen Umfeld kenne ich ähnliche Beispiele.

Die meisten Menschen scheinen nach der Devise zu leben, den eigenen kleinen Status auf Teufel-komm-raus verteidigen zu wollen - auch wenn das die fatalsten Folgen (und letztlich natürlich sowieso den Verlust eben jenes Status') zur Folge hat. Wie kleingeistig, wie dumm sind doch so viele unserer Mitmenschen! Das so alte Bild der "Herde blökender Schafe" ist wohl aktueller denn je! :-(

Liebe Grüße!

Charlie hat gesagt…

@ Jake:

Mach auch Du bitte keinen Unsinn. Mir würde etwas Wichtiges fehlen, wenn Deine donnernden Kommentare plötzlich ausblieben! Die Radieschen können wir alle noch früh und lange genug von unten angucken, und solange die Faschisten noch nicht mordlüstern vor der Haustüre stehen und das "Gesetz" dabei auf ihrer Seite haben, wollen wir dem Pack weiter den Stinkefinger zeigen und sie als das Gesindel entlarven, das sie sind!

Das ändert nichts daran, dass auch ich in regelmäßigen Abständen der Resignation erliege - wie sollte es angesichts des Irrsinns und Stumpfsinns um uns herum auch anders sein!? Aber den Triumph des Suizids gönne ich dieser widerwärtigen Bande trotzdem noch lange nicht. Ich hoffe sehr, dass Du das ebenso hältst.

Liebe Grüße!

jakebaby hat gesagt…

Ich dachte mir, dass du, wie auch Darkmoon dirbezueglich, auf den Schluss dieses lyrischen Textes anspringst.

Nooee, so weit ist es noch nicht, auch wenn die staendig steigende Ohnmacht ueber nahezu ausschliesslich negative Entwicklungen irgendwie einem langsamen, mentalen Suizid entspricht.
Ich beziehe mich unter anderem auf:
"Dass dich nichts mehr hält.
Keine Briefe, keine Zeitung,
Abgeschnitten ist die Leitung
Mit der Welt!"

Gerade werde ich meiner letzten/einzigen Verantwortung/Fuersorge entbunden, und bin somit momentan wieder mal, auf dem Weg zu einer moeglichen, letzten Reise.

Keine Ahnung durch welch fremde Gassen ich wandeln werde (es werden mit Sicherheit keine USA/Europaeischen sein) und ob ich diesmal das Vergangene gerührt wegstecken und einfach aussteigen kann.

Ich kann nicht gluecklich darueber sein oder mich gar danach sehnen. Ich fragte nicht und wurde nicht danach gefragt.
Ich bin von Anfang an nicht der einzige Author meines Lebens. In meinem Buch schrieben immer Andere mit und oft war und bin ich weiterhin zu schwach um mich auch nur vor mir selbst zu schuetzen.

Wer ich nach meiner Ankunft sein werde? .. keine Ahnung! Es ist das erste mal, dass ich nichts mehr zu verlieren habe.

Gruss
Jake

dani hat gesagt…

@ jake

hey jakebaby :-)

you are always be loved......mit allem drum und dran!!!

you are always welcome here by me......for a fucking time with "the watchmen"... :-) or what else.....*g*

nun, ich bin hier in oberfranken zuhause......
tiefste provinz.....na?!

grüßle
dani

darkmoon hat gesagt…

Jake: Das klingt aber heftigst dramatisch! Ich kenne jetzt natürlich keine Details aber ich kann mich dani nur anschließen: Wenn du reden willst oder schreiben oder wenn du Gesellschaft brauchst dann melde dich einfach bei mir (Mailaddi, Tele usw hat Charlie).

Welche Geißel des Schicksals dich da gerade auch immer quält: Halte durch! You are not alone!

Charlie hat gesagt…

@ Jake: Du hast ja meine Mailadresse. Wenn ich irgendwie helfen kann, lass es mich bitte wissen. Ich weiß nicht, was ich sonst schreiben soll - bitte melde Dich einfach. Ok?