Dienstag, 7. Oktober 2014

Zitat des Tages: Kein Ort. Nirgends


Sie kennt die Stelle unter der Brust, wo sie den Dolch ansetzen muss, ein Chirurg, den sie scherzhaft fragte, hat sie ihr mit einem Druck seines Fingers bezeichnet. Seitdem, wenn sie sich sammelt, spürt sie den Druck und ist augenblicklich ruhig. Es wird leicht sein und sicher, sie muss nur achten, dass sie die Waffe immer bei sich hat. Was man lange und oft genug denkt, verliert allen Schrecken. Gedanken nutzen sich ab wie Münzen, die von Hand zu Hand gehn, oder wie Vorstellungen, die man sich immer wieder vors innere Auge ruft. An jedem Ort kann sie, ohne zu zucken, ihren Leichnam liegen sehn, auch da unten am Fluss, auf der Landzunge unter den Weiden, auf denen ihr Blick ruht.

(...)

Wenn die Menschen gewisse Exemplare ihrer eigenen Gattung aus Bosheit oder aus Unverstand, aus Gleichgültigkeit oder aus Angst vernichten müssen, dann fällt uns, bestimmt, vernichtet zu werden, eine unglaubliche Freiheit zu. Die Freiheit, die Menschen zu lieben und uns selbst nicht zu hassen. / Begreifen, dass wir ein Entwurf sind - vielleicht, um verworfen, vielleicht, um wieder aufgegriffen zu werden, darauf haben wir keinen Einfluss. Das zu belachen, ist menschenwürdig. Gezeichnet zeichnend. Auf ein Werk verwiesen, das offen bleibt, offen wie eine Wunde.

(aus der Erzählung "Kein Ort. Nirgends" von Christa Wolf [1929-2011], Luchterhand 1979)


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