Freitag, 5. Februar 2016

Zitat des Tages: Stellenjagd


Was hab' ich nicht alles schon probiert:
jeden Morgen die Arbeits-Annoncen studiert.
Ich stehe um fünf Uhr auf, um der erste zu sein,
aber nie bin ich allein.

Ich notiere schnell und laufe im Trab
auch die entferntesten Stellen ab.
Freilich, mein Äußeres ist nicht mehr repräsentativ -
die Absätze sind schief,
und jung bin ich auch nicht mehr.
Mit leerem Magen fällt Haltung schwer.

Wenn ich Adressen zu schreiben bekäme,
ich machte es billig.
Wenn man mich wo als Ausgeher nähme,
ich liefe willig.

Ich war einmal Bürochef in erster Firma
und sah dazumal bessere Zeit;
meine Frau stammt aus gutem Haus und heißt Irma,
nun geht es ihr schlecht, und das tut mir leid.

Die wertvollen Sachen sind im Pfandhaus verfallen.
Die Halsabschneider haben uns längst in den Krallen.

Zum Glück gibt das Wohlfahrtsamt jetzt Kohlen und Holz,
damit unser Hunger nicht friert.
Früher hätten wir uns der milden Gaben geniert,
aber Not kennt keinen Stolz.

Die Buben sollten aufs Gymnasium gehn -
das ist nun aus.
Ich weiß nur eines bestimmt, wir sehn'
uns nicht mehr hinaus.

Neulich fuhr mein Abbaudirektor vorbei,
er lehnte im Auto in molligen Polsterkissen.
Zwischen ihm und mir steht mein christlich' Gewissen
und schließlich - die Polizei.

(Julius Zerfaß [1886-1956], in "Simplicissimus", Heft 46 vom 09.02.1931)

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[Der dicke Kapitalist]


"Tja - große Gewinne erfordern kleine Opfer!"

(Zeichnung von Karl Arnold [1883-1953], in "Simplicissimus", Heft 7 vom 12.05.1920)

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