Am vergangenen Freitag habe ich bei Zeit Online ein wunderschönes Beispiel für die Orwell'sche Parallelwelt entdeckt, in der sich offensichtlich auch viele QualitätsjournalistInnen tummeln. Unter dem vielsagenden Titel "Zukunft der EU: Europa braucht bessere Bürger" schrieb dort Alexander Görlach, Herausgeber des Magazins "The European" und seines Zeichens katholischer Theologe [sic!] und Linguist [ogottogott!], unter anderem:
Welche Elite hat versagt? / Die Eliten seien schuld am Versagen Europas, heißt es. Beide Teile dieser Behauptung sind falsch. Es gibt dieses Versagen Europas nicht! Die Union hat den Friedensnobelpreis nicht als Fleißsternchen für eine effiziente Verwaltung bekommen. Sondern dafür, dass sie eine dauerhafte, für die Ewigkeit gedachte Ordnung auf einem Kontinent angelegt, bewahrt und in die Zukunft geführt hat.
Weiterhin macht der Autor messerscharf den Kern des Problems aus: Schuld an der gegenwärtigen Misere Europas seien "apathische, konsumgeile Wähler". - Wer hier gelegentlich mitliest, wird schon erahnen, wie ich angesichts einer solchen schneidigen Analyse reagiert habe, daher will ich das Kreischen, Heulen und Zähneklappern, das mich schon während der Lektüre befiel, nicht näher ausführen. Ich empfehle allen, den Text selber zu lesen und die kruden Gedankengänge des Theologen zu verfolgen. Zur Schärfung des eigenen Geistes und zum Verständnis der Versumpfungen des journalistischen Mainstreams unserer "schönen neuen Welt" taugt der hanebüchene Text allemal (besonders bedenkenswerte Stichworte: "Friedensnobelpreis" und "konsumgeil").
Ich werde und werde das Gefühl nicht los, dass wir es hier keineswegs überwiegend mit dumpfhirnigen Vollidioten zu tun haben, die schlicht nicht verstehen, welchen Irrsinn sie da verbreiten. So viele geistige Minderleister in akademischen Positionen kann es doch heute noch gar nicht geben - das wird sich erst in einigen Jahrzehnten normalisiert haben, wenn die heutigen Opfer des verkrüppelten, entkernten Bildungssystems die "Instanzen" durchlaufen haben. Leute wie Görlach, der hier wieder einmal nur stellvertretend für einen Großteil seiner Zunft steht, müssen sehr genau wissen, dass sie haltlose Propaganda betreiben, die keinen erkennbaren Bezug zur Realität mehr besitzt. Die Frage bleibt evident, aus welchen Gründen sie das tun: Weil sie es "müssen", um den Job zu behalten, oder weil sie die elitäre, menschenfeindliche Sicht der kapitalistischen Eigennutzmehrer schlichtweg teilen? Es gibt sicher noch weitere vorstellbare Begründungen, die sich auch überschneiden können - eines aber eint alle Resultate derlei motivierten Schreibens: Es hat nichts mehr mit Journalismus zu tun.
Görlach beschließt seinen schmutzigen Erguss, der am vergangenen Freitag an prominenter Stelle ganz oben die Webseite der Zeit zierte, mit den bezeichnenden Worten:
Europa braucht eine neue Elite, in der Politik, der Wirtschaft, der Kultur, den Medien, die bereit ist, dem Volk nicht nach dem Maul zu reden. Sondern ihm glaubhaft Gegenwart und Zukunft in einem stimmigen Gesamtbild zu vermitteln, zu verkörpern und zu vertreten.
Hier entlarvt der Herr Theologe seine fürchterliche Denkweise, die mit Demokratie offensichtlich nichts zu tun hat, überdeutlich: Die Forderung nach einer "neuen Elite" ist für sich genommen schon so starker Tobak, dass jeder halbwegs humanistisch denkende Mensch dreimal schlucken muss, bevor der Brechreiz dennoch siegt; dass jene "neue Elite" aber auch - wie das ja seit Jahrzehnten längst geschieht - erklärtermaßen gegen den Willen der Bevölkerung handeln soll, erinnert mich letzten Endes nur noch an die altbekannte Forderung nach einem "starken Führer".
Ich finde aus dem Gruseln gar nicht mehr heraus.
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"Vom streng wissenschaftlichen Standpunkte aus muss der Historiker konstatieren: In einer Blüteperiode zu leben ist genussreicher, in einer Verfallsperiode zu leben lehrreicher."
(Zeichnung von Thomas Theodor Heine [1867-1948], in "Simplicissimus", Heft 49 vom 02.03.1925)
6 Kommentare:
"Die Frage bleibt evident, aus welchen Gründen sie das tun: Weil sie es "müssen", um den Job zu behalten, oder weil sie die elitäre, menschenfeindliche Sicht der kapitalistischen Eigennutzmehrer schlichtweg teilen?"
Ich vermute, in der Regel beginnt es so, dass sie wider besseren Wissens und gegen ihre eigenen Überzeugungen diesen Sermon absondern. Gerade weil sie den Job behalten wollen, ihre Miete bezahlen, ihre Familie ernähren und ihren Sozial Status aufrecht erhalten wollen. Mit den Jahren verwandelt sich dann die innere Ablehnung in Zustimmung zur herrschenden Meinung. Euphemistisch nennt man das dann "erwachsen werden". Ich nenne das die Erziehung zur Anpassung sowie eine vorauseilende Unterwerfung bzw. Anbiederung zur Geldelite. Hauptsache Kohle. Alles andere ist den Meisten doch völlig egal.
Tja,warum tun sie das?Weil wir so geprägt werden und das dann für "normal" oder auch für die einzige Wirklichkeit halten.Im Prinzip ist das Weltbild vieler Menschen bildlich gesehen wie das naive Weltbild von kleinen Kindern,die Superhelden spielen und gegen die Monster im Kleiderschrank kämpfen ;-)
Und man braucht Mut und Widerstandskraft um sich so einem naiven und einfach gestrickten Weltbild zu stellen (ähnlich wie beim Film "Matrix").Ist aber einfacher und bequemer,beim Altbewährten zu bleiben,wenn man die Möglichkeit dazu hat.
Mein Bild von mir und der Welt war auch nicht immer so wie heute,ich war auch programmiert,aber ich hatte nicht die Möglichkeit,davor wegzulaufen.Ich denke ,dass die meisten aber eben genau das so lange wie möglich tun,wenn es irgendwie geht.Es ändert sich eben viel,wenn man das aufgibt und es kann passieren,dass man dann ganz allein dasteht,wenn man nicht mehr der "Energielieferant" für andere sein will,das war zumindest bei mir so.Und das macht schon Angst,wenn man auf einmal ganz allein klarkommen muss...
Das fällt schwer,so ein unmögliches Weltbild und Verhalten von so vielen Menschen nicht so ernst zu nehmen,aber wie gesagt,das sind für mich Menschen,die anscheinend seit dem Kleinkindalter nur noch körperlich gewachsen sind und meinen,die ganze Welt dreht sich nur um sie.Die wissen mit Sicherheit gar nicht,was sie da tun,sonst würden sie es sicher nicht so machen...Empathie ist ihnen wohl zu hoch.
Nur weil man die Fähigkeit,sich in andere hineinzuversetzen vielleicht selbst hat,heißt das nicht,dass das bei anderen genauso ist.Es ist ja offensichtlich,dass es bei vielen wohl nicht so ist.
Ich hab die Hoffnung aufgegeben,dass sich das ändert,Hauptsache,die lassen mich mit ihren Spielchen in Ruhe.
Moin,
vielleicht leiden wir alle (mehr oder weniger)auch unter dem Stockholm Syndrom ?
Zumindest bis zu dem Moment, wo wir die Fesseln durchschneiden.
@ Ve Rena
“aber ich hatte nicht die Möglichkeit“ ???
Das Faulfuss hat im krassen Gegensatz dazu einen massgeschneiderten Aufsatz fuer die AfD&Co rausgehauen. Bavarisch/nationalistischer Schmuseeintopf. http://hinter-den-schlagzeilen.de/2016/08/08/der-terror-der-uebergroesse/
Ob sie es nun wissen(wollen) oder auch nicht oder so ... haben solch Leutchen aus verschiedenen Ecken wohl ein Problem mit diversen Realitaeten ansich.
Ich krieg mich als schier nicht mehr ein ueber diese Schlaumeier.
Gut, dass ich fuer sowas immer was zum qualmen hab.
Da faellt einem das Lachen wesentlich leichter.
Gruss
Jake
@ Jake: Ich habe mir eine Auszeit vom Faulfuß'schen Stumpfsinn verordnet, und daran halte ich mich noch eine Weile, da mir meine geistige Gesundheit doch recht wichtig ist. ;-)
Gut, das wirkt sicher unglaubwürdig, wenn ich stattdessen nicht minder grotesken Schwachsinn wie den hier behandelten Görlach-Text lese, aber irgendwo muss ich eben eine Grenzlinie ziehen, wenn ich nicht, wie Du an anderer Stelle treffend bemerkt hast, den Großteil meiner Zeit zur Gesundung auf dem Holodeck verbringen möchte.
Obwohl ... so schlimm erscheint mir die Holo-Flucht gar nicht, wenn ich an das herrlich teuflische Schlachtfest von "Lucius 2" oder an den Ork aus "Gothic 3" denke, dem ich genüsslich meine Axt in den speckigen Körper jagen darf und dafür auch noch belohnt werde. ;-) Faulfuß wird wohl nie begreifen, weshalb ein Pazifist so etwas schreibt - aus demselben Grund wird er auch nie die Musik, Literatur und bildende Kunst der vergangenen 100 Jahre verstehen, sondern stur auf dem Status der infantilen Benjamin-Blümchen-Fiktion seiner esoterischen Spinnerei verharren.
Der gute Kafka hat das 1917 in seinem Text "Die Brücke" mal sehr anschaulich formuliert:
Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. – So lag ich und wartete; ich musste warten. Ohne einzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören, Brücke zu sein.
Einmal gegen Abend war es – war es der erste, war es der tausendste, ich weiß nicht, – meine Gedanken gingen immer in einem Wirrwarr und immer in der Runde. Gegen Abend im Sommer, dunkler rauschte der Bach, da hörte ich einen Mannesschritt! Zu mir, zu mir. – Strecke dich, Brücke, setze dich in Stand, geländerloser Balken, halte den dir Anvertrauten. Die Unsicherheit seines Schrittes gleiche unmerklich aus, schwankt er aber, dann gib dich zu erkennen und wie ein Berggott schleudere ihn ans Land.
Er kam, mit der Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine Rockschöße und ordnete sie auf mir. In mein buschiges Haar fuhr er mit der Spitze und ließ sie, wahrscheinlich wild umherblickend, lange drin liegen. Dann aber – gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal – sprang er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. Wer war es? Ein Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter? Und ich drehte mich um, ihn zu sehen. – Brücke dreht sich um! - Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte, und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich immer so friedlich aus dem rasenden Wasser angestarrt hatten.
Das ist die Geschichte der Esoterik, die Faulfuß gewiss "Teufelswerk" nennen muss.
Liebe Grüße!
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