Vor einigen Tagen war bei Zeit Online ein Beitrag zu lesen, der sich mit dem Buch "Neben uns die Sintflut" von Stephan Lessenich beschäftigt. Ich muss vorwegschicken, dass ich dieses Buch nicht gelesen habe und deshalb dazu nichts weiter sagen kann - hier geht es allein um den Text des Zeit-Autors Mathias Greffrath. Der beginnt seinen Bericht mit den Worten:
"Höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, bessere Wohnungen, eine umfassende Sozialversicherung und so weiter – es ist keineswegs sicher, dass wir uns diese Dinge leisten können, wenn wir die Vorteile preisgeben, die wir aus der kolonialen Ausbeutung ziehen." So lautet schon 1945 der hellsichtige Befund von George Orwell. Er hat noch einige Gültigkeit, wenn man "Kolonialismus" durch den "globalisierten Kapitalismus" ersetzt. Der systemische Zusammenhang, in dem die einen gewinnen und die anderen verlieren, ruft immer wieder die Ungleichheitsforscher auf den Plan: nun den Soziologen Stephan Lessenich mit seinem Buch "Neben uns die Sintflut".
Das klingt, abgesehen vom Euphemismus des "globalisierten Kapitalismus", erst einmal vielversprechend, doch die kapitalismusfreundliche Zeitung geriete in arge Bedrängnis, wenn der Autor nicht bereits im nächsten Absatz mit dem üblichen Verwässern und Vernebeln begänne, indem er die logischen, zwingenden Folgen des Katastrophensystems kurzerhand zu "Nebenwirkungen" degradiert. Und so reiht sich auch in der Folge eine haarsträubende Dummheit an die nächste: Er referiert widerspruchslos, dass laut Lessenich beispielsweise die "Entwicklungshilfe" der westlichen Staaten aufgrund "korrupter Eliten" (wohlgemerkt: in den "Entwicklungsländern", nicht etwa in Deutschland oder den USA) nicht funktioniere, und versteigt sich gar zu der These, dass der "globalisierte Kapitalismus" unter anderem auch dazu geführt habe, dass sich "in den neu in den Weltmarkt eintretenden Ländern eine neue Mittelklasse [gebildet] und auch die Lage der Ärmsten [ein wenig] verbessert" habe.
So kann nur ein bornierter Schnösel argumentieren, der seine Schäfchen längst im Trockenen hat (oder zu haben glaubt) und fleißig-devot darum bemüht ist, das Katastrophensystem auf Teufel-komm-raus zu retten. In diesem Zusammenhang darf natürlich auch der hanebüchene Unsinn von der "überalterten Wohlstandsgesellschaft" nicht fehlen - ganz so als gebe es hierzulande keine zig Millionen Arme, Erwerbslose und Billigstlöhner, die händeringend nach Erwerbsarbeit bzw. einer etwas höheren Bezahlung suchten. Überhaupt findet sich im gesamten Text kein einziger Hinweis auf die Nutznießer dieses teuflischen Systems, nämlich die selbsternannte, superreiche "Elite" - als vermeintlich Schuldiger tritt wieder einmal das imaginäre Kollektiv aller westlichen BürgerInnen auf, das in seiner Gesamtheit "über die Verhältnisse anderer" lebe. Dieser lächerliche Trick ist so alt wie das Konzept der verdummenden Propaganda selbst, doch offensichtlich funktioniert er immer noch tadellos.
Selbstverständlich hat Greffrath auch die passenden Lösungen für dieses Dilemma zur Hand. Es sind freilich dieselben, seit Dekaden wieder und immer wieder vorgebeteten Floskeln und Mantras von der "politischen Regulierung": Man müsse ja nur hier und da einige Stellschrauben betätigen, und schon sei der Kapitalsmus - quasi über Nacht - das Paradies für alle Menschen:
Was helfen könnte, wird schon lange gedacht: eine Revision der Welthandelsordnung, eine behutsame Regionalisierung der globalen Produktion, eine Steuer auf Finanztransaktionen, eine globale Klimapolitik. Und weiter: ein technologischer Sprung ins solare Zeitalter im Süden, Konsumverzicht im Norden und wirksame globale politische Institutionen. Gesetze, Verträge und Erwartungsrevisionen. Politik.
Ich weiß einmal mehr nicht, ob der Mann diesen ausgemachten Blödsinn tatsächlich glaubt, den er da verzapft hat, oder ob er sich zuhause beim Sektschlürfen nicht doch dumm und dämlich bis zum Einnässen lacht, dass er so etwas allen Ernstes in einer als "seriös" bezeichneten Wochenzeitung - der "vierten Gewalt" [*glucks*] - veröffentlichen darf, ohne unter lautem Gelächter den Eselshut aufgesetzt und einen derben Tritt in den feisten Hintern zu bekommen.
Alternativen zum Kapitalismus finden selbst als Gedankenexperiment in diesem dauerhaften Albtraum längst nicht mehr statt - und in den (freigeschalteten) Kommentaren zu diesem unsäglichen Text findet sich nicht ein einziger Mensch, der das zu bemerken scheint oder auch nur am Rande andeutet. Wir befinden uns in der kapitalistischen Hölle und sämtliche Ausgänge sind nicht nur zugemauert, sondern zusätzlich mit Selbstschussanlagen und Minenfeldern versehen - auf dass auch ja niemand auf die ernsthafte, völlig abwegige Idee komme, das segensreiche Paradies verlassen zu wollen.
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[Kapitalistischer] Terror
(Zeichnung von Rudolf Schlichter [1890-1955], in: "Der Simpl", Nr. 1 vom 28.03.1946)
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