Ich bin vor nicht zu langer Zeit geboren
In einer kleinen, klatschbeflissenen Stadt,
Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren
Und eine große Irrenanstalt hat.
Mein meistgesprochenes Wort als Kind war "nein".
Ich war kein einwandfreies Mutterglück.
Und denke ich an jene Zeit zurück:
Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein.
Im letzten Weltkrieg kam ich in die achte
Gemeindeschule zu Herrn Rektor May.
- Ich war schon zwölf, als ich noch immer dachte,
Dass, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.
Zwei Oberlehrer fanden mich begabt,
Weshalb sie mich - zwecks Bildung - bald entfernten;
Doch was wir auf der hohen Schule lernten,
Ein Wort wie "Abbau" haben wir nicht gehabt.
Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten
Der Jugend und vom ethischen Niveau -
Es hieß, wir sollten jetzt ins Leben treten.
Ich aber leider trat nur ins Büro.
Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt
Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht.
Am Abend schreib ich manchmal ein Gedicht.
(Mein Vater meint, das habe noch gefehlt.)
Bei schönem Wetter reise ich ein Stück
Per Bleistift auf der bunten Länderkarte.
- An stillen Regentagen aber warte
Ich manchmal auf das sogenannte Glück ...
(Mascha Kaléko [1907-1975], in: "Das lyrische Stenogrammheft. Kleines Lesebuch für Große", Rowohlt 1956; Erstausgabe in zwei Bänden: 1933 / 1935)
1 Kommentar:
Sehr schönes Gedicht Charlie, das mich auch an meine Kindheit erinnert. Auf Mascha Kaleko wurde ich durch den berührenden Film "Der letzte schöne Tag" aufmerksam. Darin spricht die Schwester der Verstorbenen Mutter am Ende das Gedicht Mascha Kaleko "Letztes Lied".
Es gibt Gründe, warum ich dieses Gedicht hier nicht abbilde und auch nicht verlinke.
Kommentar veröffentlichen