Mittwoch, 31. März 2010

Über Ausmaß, Weisen und Folgen von unbezahlter Mehrarbeit in Deutschland

In der Debatte über den Arbeitsmarkt werden die Dimensionen und Auswirkungen unbezahlter Mehrarbeit kaum diskutiert, obgleich diese einen relevanten volkswirtschaftlichen Faktor zugunsten der Arbeitgeber darstellt. Telepolis sprach mit Jörn Boewe, der sich in dem Buch "ArbeitsUnrecht" mit einem Beitrag dem Thema widmete. (...)

Telepolis: Sind diese Folgen Ihrer Einschätzung nach politisch gewollt?

Jörn Boewe: Eindeutig ja. Die rot-grüne Bundesregierung hat mit den vier Hartz-Gesetzen einen ausgedehnten Niedriglohnsektor geschaffen, die Lohnkosten insgesamt gedrückt, die Arbeitsverhältnisse autoritärer gestaltet, Arbeitnehmerrechte eingeschränkt und generell das Verhältnis Lohnarbeit und Kapital zu Gunsten des Kapitals verändert. Das waren keine Kollateralschäden, das war politisch gewollt.

Telepolis: Welche Auswirkungen hat die unbezahlte Mehrarbeit auf Gesamtwirtschaft und Gesellschaft?

Jörn Boewe: Volkswirtschaftlich ist es gewissermaßen ein Geschenk an die Unternehmen, die dadurch Lohnkosten sparen. Was hier "gespart" wird, fehlt aber den Lohnabhängigen als Kaufkraft, d.h. die Binnennachfrage wird geschwächt. Konservativ geschätzt liegt dieser Verlust - wir könnten auch sagen: diese Umverteilung von unten nach oben - im hohen zweistelligen Milliardenbereich, also immerhin um die drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Aber ehrlich gesagt halte ich das nicht für das Schlimmste. Es heißt zwar, Zeit ist Geld, aber für einen Menschen, der seine grundsätzlichen existenziellen Bedürfnisse befriedigen kann, ist Zeit tatsächlich wichtiger als Geld. Ich weiß, dass mir in diesem Punkt eine Menge Leute widersprechen würden, aber ich denke, die liegen falsch. Das ist auch keine Ansichts- oder Geschmacksfrage. "Zeit ist der Raum zu menschlicher Entwicklung", wie Marx schreibt, und sie ist die einzige Ressource, die absolut nicht erneuerbar ist. Wenn eine Minderheit der Mehrheit systematisch Lebenszeit stiehlt, ist das schlicht asozial.

Falls Ihnen das zu existentialistisch klingt, hier noch eine ganz profane Interpretation: Die Mehrarbeit der einen ist die Erwerbslosigkeit der anderen. Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung, aber auch des eher arbeitgeberfreundlichen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge, leistet jeder abhängig Beschäftigte in der Bundesrepublik in der Woche im Schnitt eine unbezahlte Überstunde, vielleicht auch etwas weniger. Zusätzlich lässt er 2,2 Urlaubstage verfallen. Das hört sich nicht viel an, aber dieses Arbeitsvolumen entspricht mehr als einer Million Vollzeitstellen. Eine Million Menschen sitzen auf der Straße, weil wir nicht pünktlich Feierabend machen.

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Anmerkung: Der Optimismus Boewes gegen Ende des Interviews ist angesichts der zuvor beleuchteten Sachlage nicht nachvollziehbar. Die "Elite" wird es nicht zulassen, dass sich am eingeschlagenen Weg etwas Wesentliches ändert - eher wird es zu weiteren Kriegen, zu mehr Manipulationen, zu mehr Überwachung und Kontrolle kommen, also letztlich zu einem diktatorischen Überwachungs- und Unterdrückungsstaat, als dass eine Rückbesinnung auf echte Sozialdemokratie geduldet werden wird. Die Zeichen stehen überall auf Sturm - nicht auf positive Veränderung. Das ist an allen Ecken und Enden deutlich sicht- und greifbar und angesichts des Geld- und Wirtschaftssystems, das die neoliberale Bande als in Stein gemeißelten Gott anbetet und niemals in Frage stellen würde, ohnehin unvermeidbar.

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