Bayern im Jahr 2008: Nachdem sie fünf Jahre lang von einer einschlägigen Beratungsstelle intensiv betreut worden war, zeigt eine mittlerweile 20 Jahre alte Frau ihren Stiefvater an, sie als Dreizehnjährige sexuell missbraucht zu haben. Der Mann wird festgenommen und verbringt bis zur Hauptverhandlung vor einer Strafkammer eines bayerischen Landgerichts ein Jahr [sic!] in U-Haft.
Vor Gericht wird er nach zwei Stunden Verhandlung zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Die Feststellungen fußen nicht auf den Angaben der vermeintlich Geschädigten vor Gericht, denn auf ihr Erscheinen war verzichtet worden. Sie fußen auch nicht auf detaillierten Angaben des Angeklagten. Sie beruhen allein auf der 20 Minuten dauernden Vernehmung einer Kriminalbeamtin, die die angeblich Geschädigte vernommen hatte, sowie auf einer knappen Erklärung des Verteidigers, die vorgeworfenen Taten seien zutreffend, was der Angeklagte abnickt. Das reicht der Kammer zur "Beweiswürdigung" und zur Verurteilung des Angeklagten.
Der Mann aber hatte von Anbeginn der Beschuldigungen an bestritten, seiner Stieftochter je zu nahe gekommen zu sein. Sogar nach dem Abnicken des "Geständnisses" bekräftigt er nochmals gegenüber seinem Verteidiger: "Aber Sie wissen, dass das alles nicht stimmt!"
(...)
"Wenn es für den Bürger, der zufällig mal das Pech hat, vor ein Landgericht zu geraten, keine nächste Instanz mehr gibt, die sich kritisch mit dem Urteil auseinandersetzt, dann ist doch der Rechtsstaat so gut wie abgeschafft." (...)
Verteidiger fühlen sich diszipliniert und an die Leine gelegt. Sie erleben immer öfter, wie offensichtliche Rechtsfehler mit einem Einzeiler und dem unseligen "o.u." - offensichtlich unbegründet - erledigt werden, wenn sich der Senat nur einig ist. Sie erleben, wie Angeklagte in abstruse Absprachen hineingezwungen werden, zu denen es keine Alternative mehr gibt, weil die Hoffnung auf eine Revision des Urteils weggeschmolzen ist wie Schnee von gestern. Soll das die Zukunft sein?
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Anmerkung: Beim Lesen dieses Artikels packte mich das kalte Grausen - wieviele Unschuldige bzw. Gesunde mögen in deutschen Haftanstalten und Psychiatrien gerichtlich verfügt vor sich hin vegetieren? Die Ausführungen der Autorin über die Entwicklungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten sind wahrlich erschütternd. Und auch wenn das einleitende Beispiel aus Bayern stammt, sollte sich auch in anderen Bundesländern niemand in Sicherheit wiegen.
Es stellt sich nun die Frage, ob sich hier ein Rechtssystem, das einzelnen Menschen (RichterInnen) eine fast göttlich anmutende Macht über andere Menschen (Angeklagte) verleiht, einfach verselbstständigt und pervertiert hat - oder ob die politisch gewollte und konsequent weiter verschärfte Personalknappheit an deutschen Gerichten mit dazu beigetragen hat, dass einige RichterInnen - gewiss nicht alle - sich so unsäglich verhalten? Ich traue es der neoliberalen Bande jedenfalls durchaus zu, den Rechtsstaat auch mit diesen Mitteln quasi "über Bande" unter Druck zu setzen bzw. lahmzulegen.
Das Problem betrifft auch keineswegs nur Strafprozesse - an den Sozial- und Verwaltungsgerichten beispielsweise sieht es in personeller Hinsicht nicht besser aus. Auch ist es kein Geheimnis, dass die Content-Mafia ihre gewinnträchtigen Beutezüge sehr gern vor dem Landgericht Hamburg in Szene setzt, weil die RichterInnen der dort zuständigen Kammer bekannter Maßen gern für die Konzerne und gegen die BürgerInnen entscheiden. Möchte man in einem solchen Staat leben und es riskieren, möglicherweise in die Mühlen einer solchen Justiz zu geraten? Diejenigen, die in diesem Staat tatsächlich vor ordentliche Gerichte gehörten, sehen indes Gerichtssäle oder gar Gefängnisse oder Psychiatrien niemals von innen.
Die im Artikel beschriebene Revisionspraxis bzw. deren faktische Außer-Kraft-Setzung setzt dem Ganzen noch die Krone auf - der gerichtlichen Willkür sind in diesem Land alle Türen und Tore weit geöffnet, und man kann nur spekulieren, wie weit sie tatsächlich bereits eingedrungen ist. Mich schaudert's einmal mehr bis ins Mark.
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Praktische Finanzwissenschaft
"Vertrauen Sie mir ruhig Ihre Brieftasche an, junger Mann! Auf dem Vertrauen beruht die ganze Geldwirtschaft!"
(Zeichnung von Wilhelm Schulz [1865–1952], in "Simplicissimus", Heft 37 vom 14.12.1931)
2 Kommentare:
Mir war das nicht so klar wie das mit den Gerichtsverfahren so läuft. Es kann doch nicht sein daß jemand für Jahre in den Bau kommt gegen den keine Beweise und zwei gegensätzliche Gutachten vorliegen?!?! Ich frag mich immer öfter in was für einem Land ich eigentlich lebe!
@ darkmoon:
Ich habe dazu die passende Geschichte bei Fefe gefunden ... auch in Sachsen ticken die gerichtlichen Uhren offensichtlich rückwärts.
In welchem Land wir leben? Nun, im neoliberal verseuchten Absurdistan einer selbsternannten "Elite" natürlich, was dachtest Du denn? ;-)
Liebe Grüße!
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