Ehe er sich zu seinem abendlichen Spaziergang aufmachte, blickte Graf Henry wie gewöhnlich über die Ebene zu der letzten Anhöhe hin, wo der Horizont wie eine ferne Bühne von der untergehenden Sonne erleuchtet wurde. Während die unter den zarten Händen seiner Frau hervorströmenden Mozartschen Klänge ihn sanft umspielten, fiel ihm auf, dass die vorrückende Kolonne einer gewaltigen Armee sich langsam über den Horizont schob. Auf den ersten Blick schienen die langen Reihen sich in geordneten Linien voranzubewegen, doch bei näherem Hinsehen wurde deutlich, dass die Armee, wie das unauffällige Detail einer Landschaft von Goya, sich aus einem gewaltigen Gewimmel zusammensetzte, aus Männern und Frauen, hier und da ein paar Soldaten in abgerissenen Uniformen darunter, die in einer aufgelösten Flut vorwärts drängten. Einige mühten sich unter schweren Lasten ab, welche an primitiven Jochen, die ihnen im Genick lagen, hingen; andere kämpften mit schwerfälligen Holzkarren, zerrten mit den Händen an den Radspeichen; ein paar stampften mühsam allein dahin; doch alle bewegten sich im selben Schritt, die gekrümmten Rücken von der untergehenden Sonne erleuchtet.
Die vorrückende Menge war noch so weit entfernt, dass man sie kaum überblicken konnte, aber selbst während Graf Henry mit reserviertem, doch aufmerksamem Gesichtsausdruck hinsah, kam sie merklich näher: Diese Vorhut eines riesigen Pöbelhaufens, der da am Horizont auftauchte. Schließlich, als das Licht des Tages zu schwinden begann, erreichte die Spitze der Menge die Kuppe der ersten Anhöhe unterhalb des Horizontes, und Graf Henry wandte sich von der Terrasse ab und erging sich unter den Zeitblumen. [...]
Draußen erhob sich der Lärm in die Luft, wohl tausend Stimmen brüllten nur zwanzig oder dreißig Meter entfernt. Ein Stein flog über die Mauer, landete zwischen den Zeitblumen und zerschmetterte mehrere der zerbrechlichen Stängel. Die Gräfin eilte zu ihm, als ein Steinhagel gegen die Mauer prasselte. Dann wirbelte ein schwerer Ziegelstein über ihre Köpfe hinweg durch die Luft und krachte in eines der Wintergartenfenster. [...]
Wie ein Schwert stürzte die Dunkelheit über sie herein, noch bevor er etwas erwidern konnte. Keuchend und fluchend erreichten die vorderen Reihen der Menge die nur noch kniehohen Überreste der Mauer, die das zerstörte Grundstück umgaben, zerrten die Karren hinüber und die staubigen Fahrspuren entlang, die einstmals eine reich geschmückte Auffahrt gewesen waren. Die Ruine, früher eine geräumige Villa, unterbrach kaum den endlosen Lauf der Menschheit.
(James Graham Ballard [1930-2009]: "Der Garten der Zeit" (Auszüge), in: "Der Garten der Zeit. Die besten Erzählungen", Suhrkamp 1996; englische Originalveröffentlichung: 1962)
1 Kommentar:
Danke vielmals für diesen Tip, das Buch muß ich mir dann wohl mal besorgen!
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