Weihnachten ist immer auch die Zeit, in der man gezwungen ist, ökonomisch Bilanz zu ziehen. Nicht nur, dass einem jetzt lauter Jahresendabrechnungen ins Haus flattern, die Versicherungen, die man leichtsinnig in besseren Tagen abgeschlossen hat, ihre Tarife erhöhen, und die Steuererklärung fällig wird. Auch die Geschenkefrage nötigt einen zur schonungslosen Selbstanalyse. Ist man der Ich-habe-doch-schon-alles-Geschenketyp oder der Ich-kann-alles-brauchen-Typ? Um diejenigen, die das I-Pad 2 auf dem Wunschzettel haben, braucht man sich keine Sorgen zu machen. Um jemanden wie meine Freundin schon. Sie ist Einser-Germanistin und freie Lektorin und wünscht sich zu Weihnachten von den Eltern eine Brille. Genaugenommen möchte sie nur das Geld für die Brille. Momentan sitzt sie mit Lupe und Schlecker-Brille an den Manuskripten. Das hört sich dramatisch an, aber ganz so schlimm ist die Sache dann doch nicht, dafür aber komplizierter. Meine Freundin könnte sich ein einfaches Modell locker leisten. Eines dieser Nulltarif-Gestelle von dieser Brillenkette. Will sie aber nicht. Ökonomisch wäre das nämlich eine Katastrophe. "Wenn ich scheiße aussehe", sagt sie, "kann ich den nächsten Job vergessen." Ein bestimmtes Designergestell soll es sein. Außerdem braucht sie Spezialgläser, die für Bildschirmarbeit taugen. Insgesamt macht das ungefähr ihr halbes Monatseinkommen [aus]. "Arm zu sein, ist im Kulturbetrieb überhaupt kein Problem. Arm auszusehen aber eine Todsünde."
(Heike Karen Runge in der Jungle World Nr. 50 vom 15. Dezember 2011)
(Heike Karen Runge in der Jungle World Nr. 50 vom 15. Dezember 2011)
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