Freitag, 23. April 2010

Realitätsverlust: Die teure Angst vor der Unterschicht

Während Arbeitnehmer bis zu 53 Prozent ihrer Arbeitskosten als Steuern und Sozialabgaben abführen, versteuert ein Millionär im Schnitt seine Einkünfte mit 32 Prozent. Ulrike Herrmann analysiert den Realitätsverlust der Mitte – und was er kostet.

Das ist ein wütendes Buch. Und irgendwann packt einen auch beim Lesen Wut über das, was hier beschrieben wird. Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin der Berliner Tageszeitung, zeichnet ein Bild der deutschen Gesellschaft, das man sich durch Lektüre der Wirtschaftsseiten der Zeitungen eher nicht machen kann. Sie schildert ein Land, das sich zwar gern als "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky) sieht, in Wirklichkeit aber "extrem ungleich" ist.

Dabei klagt Herrmann diese Unterschiede nicht an, sie beschäftigt sich schlicht mit den Kosten und stößt dabei auf ein geradezu perfektes System, das die Reichen fast immer schont und die Mittelschicht zur Kasse bittet, genauer: die Schicht mit Einkommen zwischen monatlich 1000 und 2000 Euro netto für Singles und zwischen 2100 und 4600 Euro für Familien mit zwei kleinen Kindern. (...)

Wer ist an alledem schuld? Kurioserweise die, die darunter leiden, sagt Herrmann: die Mittelschicht selbst. Sie wählt sich die Parteien und Programme, die sie immer weiter unter wirtschaftlichen Druck setzen. Schließlich stelle die Mitte immer noch die meisten Wahlberechtigten: "Ihre Mehrheit wirkt sich an der Wahlurne sogar überproportional aus, weil die Armen ihre Stimme oft gar nicht erst abgeben." Aber warum stimmen sie dann gegen sich selbst? Herrmann sagt: weil sie sich mit der Elite, der Oberschicht, emotional identifizieren und, stärker noch, jede Nähe zur Unterschicht ängstlich meiden. Und weil sie sich deshalb lieber einreden, der Hartz-IV-Empfänger verprasse ihre Sozialbeiträge, als einzusehen, dass sie mit weitaus größeren Summen die Eliten fetterfüttern.

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Anmerkung: Nichts Neues für Informierte - aber es ist schön, dass diese Information nun auch einmal in einem Mainstream-Medium ankommt. Konsequenzen (gerade auch für die Berichterstattung jener Medien) wird das aber natürlich nicht haben, denn es ist ja gewollt und wird allseits propagiert, dass die so genannte Mittelschicht in den Armen ihren Feind ausmacht, und nicht etwa in den Reichen. Und die schwarz-gelb-rot-grüne Bande wird einfach weitermachen - bis es die Mittelschicht nicht mehr gibt. Dann wäre der neoliberale Fetischtraum von den wenigen Reichen auf der einen und einem in Armut gehaltenen, schuftenden und konsumierenden Sklavenheer auf der anderen Seite verwirklicht.

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