Samstag, 17. Oktober 2009

Was wir von Bolivien lernen können

Es mag für manche Leser erstaunlich sein, an dieser Stelle (wo sonst oft eher Staatskritisches zu lesen ist) die Verlautbarungen einer Regierung zu finden. Doch was die seit 2006 amtierende bolivianische Regierungspartei MAS unter dem indigenen Kokabauern Evo Morales auf den Weg gebracht hat, scheint dermaßen fortschrittlich, dass es unbedingt in diese Zeitschrift gehört. – Wie fortschrittlich, das wird deutlich, wenn man sich bei der Lektüre der folgenden Beiträge einmal vorzustellen versucht, dass die verfassungsmäßigen Weichenstellungen in ähnlicher Form von der neuen deutschen Bundesregierung vorgenommen werden würden …

Noch vor 50 Jahren war es der indigenen Bevölkerungsmehrheit verboten, die Plaza Murillo, den allseits beliebten Platz zwischen Regierungssitz, Parlament und Kathedrale, zu betreten. Jetzt feierte ein unterdrücktes Volk hier die Wiedergeburt seiner Würde. In der Präambel des neuen Verfassungstextes heißt es:

"In uralten Zeiten türmten sich Berge auf, bahnten sich Flüsse ihre Wege, entstanden Seen. Unser Amazonas, Chaco, Altiplano und Täler bedeckten sich mit Grün und Blumen. Wir bevölkerten diese Heilige Mutter Erde mit unterschiedlichen Gesichtern, von da an verstanden wir die bestehende Vielfalt aller Dinge und unsere Verschiedenartigkeit als Menschen und Kulturen. So bildeten wir unsere Völker, und erst mit der unheilvollen Kolonialzeit verstanden wir, was Rassismus bedeutet.
Wir sind das heterogen zusammengesetzte bolivianische Volk; aus der Tiefe der Geschichte kommend, inspiriert von den Kämpfen der Vergangenheit […] und in Gedenken an unsere Märtyrer, erschaffen wir heute einen neuen, auf Respekt und Gleichheit gründenden Staat, mit den Prinzipien Selbstbestimmung, Würde, Vervollkommnung, Solidarität, Harmonie und Gerechtigkeit in der Verteilung und Umverteilung des Sozialprodukts. Wir erschaffen einen Staat, in dem das Streben nach dem guten Leben vorherrscht, mit Respekt vor der wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen, politischen und kulturellen Vielfalt der Bewohner dieses Landes. Im gemeinsamen Zusammenleben soll jeder Mensch Zugang zu Wasser, Arbeit, Bildung, Gesundheit und Heim haben. Wir überlassen den kolonialen, republikanischen und neoliberalen Staat der Vergangenheit. Wir nehmen uns der historischen Aufgabe an, gemeinsam einen einheitlichen kommunitär-plurinationalen Rechts- und Sozialstaat aufzubauen, der die Absicht beinhaltet und ausdrückt, voranzuschreiten zu einem demokratischen, produktiven Bolivien, Träger und Förderer des Friedens sowie der ganzheitlichen Entwicklung, der freien Selbstbestimmung der Völker verpflichtet. Wir erklären unsere Verpflichtung zur Einheit und Integrität des Landes. Das Mandat unserer Völker erfüllend, mit der Kraft unserer Pachamama und dank Gott, gründen wir Bolivien neu."

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10 Gebote, um den Planeten, die Menschheit und das Leben zu retten
Von Evo Morales Ayma, Präsident der Republik Bolivien

1. Mit dem Kapitalismus aufhören
Um den Planeten, das Leben und die menschliche Spezies zu erhalten, müssen wir mit dem Kapitalismus aufhören. Es ist Zeit, die finanziellen Schulden des Südens gegen die ökologischen Schulden des Nordens aufzurechnen.

2. Auf Kriege verzichten
Nichts und niemand kann sich aus einem Krieg ausschließen. Die Kriege sind die größte Verschwendung und Plünderung von Leben und der natürlichen Ressourcen. Wir, die indigenen Völker des Planeten, müssen der Welt sagen, dass wir glauben, dass die Millionen und Millionen von Dollar, die heute in die Industrie des Todes investiert werden, in einen großen gemeinsamen Fonds gehen sollten, um den Planeten, die Menschheit und das Leben zu retten.

3. Eine Welt ohne Imperialismus und Kolonialismus
Das kapitalistische System trägt in seinen Eingeweiden den Imperialismus und den Kolonialismus. Den anderen zu beherrschen, den anderen zu unterwerfen, den anderen zu kontrollieren und den anderen unterzuordnen, sind die Formen des „Lebens“ dieses Modells der „Entwicklung“, die auf der Konkurrenz basiert und nicht auf der Ergänzung/Vollständigkeit.

4. Das Wasser als Recht aller Lebewesen
Ohne Wasser gibt es kein Leben. Der Grundwasservorrat geht weltweit zurück. Um uns mit dieser Weltkrise des Wassers auseinanderzusetzen, müssen wir damit anfangen, den Zugang zu Wasser als Menschenrecht zu erklären und folglich als eine öffentliche Dienstleistung, die nicht privatisiert werden kann. Wenn das Wasser privatisiert und vermarktet wird, können wir kein Wasser für alle garantieren. Es ist fundamental, den Zugang zu Wasser zum Menschenrecht zu erklären.

5. Saubere und umweltfreundliche Energiearten
Einige Daten ermöglichen uns zu verstehen, was in der Welt im Hinblick auf die Anwendung von Energie und ihre Beziehung zur Natur vor sich geht. Die Entwicklung sauberer und umweltfreundlicher Energien ist eine weitere grundlegende Aufgabe zur Rettung des Planeten, der Menschheit und des Lebens.

6. Achtung vor der Mutter Erde
Der Schändung unserer Mutter Erde und aller ihrer Lebewesen werden wir mit der Kraft der Erkenntnis und der Liebe zur Schöpfung entgegenwirken. Die Erde kann nicht nur als eine natürliche Ressource angesehen werden. Wir respektieren die Natur, ehren unsere Mutter Erde und erkennen die Naturgesetze als höchstes Gesetz an.

7. Die Grunddienstleistungen als Menschenrecht
Der Zugang zu Wasser, Energie, Bildung, Kommunikation, Gesundheit und Transport ist ein Grundrecht, das jeder Staat seiner Bevölkerung als grundlegendes Menschenrecht garantieren muss. Diese Dienstleistungen können nicht zu privaten Geschäften gemacht werden. Sie müssen zur Grundlage der öffentlichen Dienste werden.

8. Verbrauchen, was notwendig ist, und Konsum des lokal Produzierten
Wir müssen Schluss machen mit dem Konsumismus, der Verschwendung und dem Luxus. Im ärmeren Teil des Planeten verhungern jedes Jahr Millionen Menschen; gleichzeitig werden im reicheren Teil des Planeten Millionen Dollar ausgegeben, um die Fettleibigkeit zu bekämpfen. Wir verbrauchen im Exzess, wir vergeuden Naturressourcen und produzieren Müll, der die Mutter Erde vergiftet. Verbrauchen, was notwendig ist, und dem Verbrauch dessen, was wir lokal produzieren, den Vorrang geben, das ist von erstrangiger Bedeutung, um den Planeten, die Menschheit und das Leben zu retten.

9. Respekt vor kultureller und wirtschaftlicher Vielfalt
Der Kapitalismus reduziert die Menschen auf ein Leben als Konsumenten. Wir – die indigenen Völker dieses Planeten – glauben nicht an Einheitslösungen für alle. Menschen sind verschieden. Wir leben in Gemeinschaften mit Identitäten, mit eigenen Kulturen. Eine Kultur zu zerstören, die Identität eines Volkes anzugreifen – das ist der größte Schaden, den man der Menschheit zufügen kann.

10. „Vivir Bien“ – das gute Leben
Wir – die indigenen Völker dieses Planeten – wollen einen Beitrag leisten für eine gerechte, vielfältige und ausgeglichene Welt, die einschließt und nicht ausgrenzt. Wir sagen „Vivir Bien“ – das gute Leben.

Ich denke, dass wir Menschen unsere Wurzeln wiederentdecken können – und sollten. Ich glaube daran, dass die Menschheit eine gerechtere Welt aufbauen kann. Eine vielfältige Welt, eine Welt, die integriert und ausgeglichen ist, eine Welt im Einklang mit der Natur, mit der Mutter Erde.

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