Das Gebäude
Die blaue Sonne war unter den Horizont gesunken, die rote Sonne stieg siegreich empor. Ein ungeheuer violetter Bogen wölbte sich dazwischen wie ein Dach. Fontain marschierte unten in der Kolonne. Von allen Seiten kamen sie, flexible graue Rechtecke, die sich gegen einen Punkt nach Westen bewegten: zur Brücke, die die Stadt mit der Insel verband. Polizeiroboter regelten den Verkehr. Fontain war ein Maurer. Das heißt, er durfte die Steine übereinander schichten, die ihm die Träger aus den Feldern herbei schleppten. Mit einer Kelle schlug er den Plastikmörtel auf die offen liegenden Flächen, dann setzte er den nächsten Stein darauf. Sie sprachen nicht während der Arbeit. Inspektionsroboter strichen unablässig hinter den Reihen der Schaffenden vorbei. Erst in ihrer Freizeit, in den wenigen Stunden der blauen Nacht, die ihnen vor dem Schlafen blieben, unterhielten sie sich darüber – über das Gebäude, das sie errichteten, wie sie darin leben würden, wenn es erst fertig wäre, wie angenehm sie es dann hätten. Jetzt reichte der Wohnraum gerade, jeder besaß eine Einheitswohnfläche – ihre Arbeit verhieß ihnen Platz im Überfluss. Das Gebäude erstreckte sich weit nach allen Richtungen; noch keiner hatte die ganze Insel gesehen, und, obwohl jeder täglich einen anderen Arbeitsplatz zugewiesen bekam, ahnte keiner, wie auch nur der Grundriss des Gebäudes aussah. Dazu waren ja die Roboter da. Generationen hatten an dem Gebäude gearbeitet, und nun würde es bald fertig sein. In zehn Jahren? In zwanzig Jahren? Fontain hatte einmal einen Inspektionsroboter gefragt. Das hatte ihm drei Nächte Kältearrest eingebracht. Er stand auf dem Gerüst und schichtete Stein auf Stein. Er hatte einen weiten Ausblick, doch sah er nur graue Mauern, bald höher, bald niedriger. Überall auf den Gerüsten waren Arbeiter am Werk. Und unten eilten die Träger mit ihren großen Körben hin und her. Seit er sich erinnern konnte, war er täglich hier gewesen. Nie hatte er viel darüber nachgedacht. Aber jetzt, als er sich insgeheim umdrehte und über die endlosen Mauern blickte, kam ihm das Gebäude plötzlich wie etwas Übles vor, und einen Moment schoss ihm ein frevlerischer Gedanke durch den Kopf: Diese Fundamente einreißen, diese Mauern der Erde gleichmachen – und ein sorgloses Leben in der alten Stadt führen! Das ging aber rasch vorüber. Schuldbewusst wandte sich Fontain wieder seinen Steinen zu und arbeitete mit doppeltem Eifer weiter.
Das violette Leuchten über der Stadt zeigte den Morgen an – die letzten roten Strahlen verblassten, das Blau des Tages breitete sich aus. Die Einwohner befanden sich auf ihrem Marsch nach Osten – zur Brücke, zur Insel, zur Stätte ihrer Arbeit. Was jenseits der Insel lag, wussten sie nicht. Dafür interessierte sich niemand. Sie hatten auch keine Zeit dafür. Wenn sie abends von der Arbeit heimkamen, waren sie todmüde. Sie nahmen die Speisen aus den Robotküchen zu sich und fielen in ihre Betten. Hassan war Arbeiter. Das heißt, er meißelte Steine von den Mauern herunter. Das war ein mühsames Geschäft, denn sie waren mit einer glasharten Substanz verklebt. Es war immer noch besser als das der Träger, die das schwere Material tagaus, tagein hinaus auf die Schuttplätze transportieren mussten. Hassan hatte das angenehme Gefühl, eine wichtige Arbeit zu leisten. Er hätte die Robotpolizei nicht nötig gehabt, die alle Arbeiter ständig kontrollierte. Wo sie ihn auch eingesetzt hatten, er hatte seine Arbeit getan, er hatte sein Soll erfüllt. Er hockte auf seinem Gerüst und schlug mit dem Hammer auf den Meißel ein, dass es hell aufklang. In seinem Kopf war ein dumpfes Träumen, ein Hoffen auf schöne Zeiten, in denen der Platz freigelegt sein würde und sie die hydroponischen Gärten anlegen würden. Jetzt reichte die Nahrung genau für die genormten Rationen – später würden sie essen und trinken, ohne Einschränkung, aus dem Überfluss heraus. Mit einem Aufbäumen seines ganzen Körpers hatte Hassan wieder einen Stein weggebrochen. Der baumelte nun im Auffangnetz. Schon packte ihn ein Träger in seinen Korb. Hassan strich sich den Schweiß aus der Stirn und sah über seine Mauer hinweg auf die ausgezackten Ränder der anderen, an denen seine Kameraden tätig waren. Wie hoch war das Gebäude einst gewesen? Ein Impuls zuckte durch sein Hirn, eine absurde Idee, eine Vision, aber erschreckend deutlich: Diese Mauern weiterbauen, immer höher, zu einem riesenhaften, mächtigen, alles beherrschenden Bauwerk vereinigen, von dessen Zinnen man die ganze Insel überblicken könnte! Doch schon wurde ihm das Unsinnige dieses Einfalls klar, und Hassan setzte wieder den Meißel an, noch ein wenig verwirrt, aber ohne Zögern – mit der Sicherheit dessen, für den andere denken.
[Herbert W. Franke: Der grüne Komet. München 1964]
Die blaue Sonne war unter den Horizont gesunken, die rote Sonne stieg siegreich empor. Ein ungeheuer violetter Bogen wölbte sich dazwischen wie ein Dach. Fontain marschierte unten in der Kolonne. Von allen Seiten kamen sie, flexible graue Rechtecke, die sich gegen einen Punkt nach Westen bewegten: zur Brücke, die die Stadt mit der Insel verband. Polizeiroboter regelten den Verkehr. Fontain war ein Maurer. Das heißt, er durfte die Steine übereinander schichten, die ihm die Träger aus den Feldern herbei schleppten. Mit einer Kelle schlug er den Plastikmörtel auf die offen liegenden Flächen, dann setzte er den nächsten Stein darauf. Sie sprachen nicht während der Arbeit. Inspektionsroboter strichen unablässig hinter den Reihen der Schaffenden vorbei. Erst in ihrer Freizeit, in den wenigen Stunden der blauen Nacht, die ihnen vor dem Schlafen blieben, unterhielten sie sich darüber – über das Gebäude, das sie errichteten, wie sie darin leben würden, wenn es erst fertig wäre, wie angenehm sie es dann hätten. Jetzt reichte der Wohnraum gerade, jeder besaß eine Einheitswohnfläche – ihre Arbeit verhieß ihnen Platz im Überfluss. Das Gebäude erstreckte sich weit nach allen Richtungen; noch keiner hatte die ganze Insel gesehen, und, obwohl jeder täglich einen anderen Arbeitsplatz zugewiesen bekam, ahnte keiner, wie auch nur der Grundriss des Gebäudes aussah. Dazu waren ja die Roboter da. Generationen hatten an dem Gebäude gearbeitet, und nun würde es bald fertig sein. In zehn Jahren? In zwanzig Jahren? Fontain hatte einmal einen Inspektionsroboter gefragt. Das hatte ihm drei Nächte Kältearrest eingebracht. Er stand auf dem Gerüst und schichtete Stein auf Stein. Er hatte einen weiten Ausblick, doch sah er nur graue Mauern, bald höher, bald niedriger. Überall auf den Gerüsten waren Arbeiter am Werk. Und unten eilten die Träger mit ihren großen Körben hin und her. Seit er sich erinnern konnte, war er täglich hier gewesen. Nie hatte er viel darüber nachgedacht. Aber jetzt, als er sich insgeheim umdrehte und über die endlosen Mauern blickte, kam ihm das Gebäude plötzlich wie etwas Übles vor, und einen Moment schoss ihm ein frevlerischer Gedanke durch den Kopf: Diese Fundamente einreißen, diese Mauern der Erde gleichmachen – und ein sorgloses Leben in der alten Stadt führen! Das ging aber rasch vorüber. Schuldbewusst wandte sich Fontain wieder seinen Steinen zu und arbeitete mit doppeltem Eifer weiter.
Das violette Leuchten über der Stadt zeigte den Morgen an – die letzten roten Strahlen verblassten, das Blau des Tages breitete sich aus. Die Einwohner befanden sich auf ihrem Marsch nach Osten – zur Brücke, zur Insel, zur Stätte ihrer Arbeit. Was jenseits der Insel lag, wussten sie nicht. Dafür interessierte sich niemand. Sie hatten auch keine Zeit dafür. Wenn sie abends von der Arbeit heimkamen, waren sie todmüde. Sie nahmen die Speisen aus den Robotküchen zu sich und fielen in ihre Betten. Hassan war Arbeiter. Das heißt, er meißelte Steine von den Mauern herunter. Das war ein mühsames Geschäft, denn sie waren mit einer glasharten Substanz verklebt. Es war immer noch besser als das der Träger, die das schwere Material tagaus, tagein hinaus auf die Schuttplätze transportieren mussten. Hassan hatte das angenehme Gefühl, eine wichtige Arbeit zu leisten. Er hätte die Robotpolizei nicht nötig gehabt, die alle Arbeiter ständig kontrollierte. Wo sie ihn auch eingesetzt hatten, er hatte seine Arbeit getan, er hatte sein Soll erfüllt. Er hockte auf seinem Gerüst und schlug mit dem Hammer auf den Meißel ein, dass es hell aufklang. In seinem Kopf war ein dumpfes Träumen, ein Hoffen auf schöne Zeiten, in denen der Platz freigelegt sein würde und sie die hydroponischen Gärten anlegen würden. Jetzt reichte die Nahrung genau für die genormten Rationen – später würden sie essen und trinken, ohne Einschränkung, aus dem Überfluss heraus. Mit einem Aufbäumen seines ganzen Körpers hatte Hassan wieder einen Stein weggebrochen. Der baumelte nun im Auffangnetz. Schon packte ihn ein Träger in seinen Korb. Hassan strich sich den Schweiß aus der Stirn und sah über seine Mauer hinweg auf die ausgezackten Ränder der anderen, an denen seine Kameraden tätig waren. Wie hoch war das Gebäude einst gewesen? Ein Impuls zuckte durch sein Hirn, eine absurde Idee, eine Vision, aber erschreckend deutlich: Diese Mauern weiterbauen, immer höher, zu einem riesenhaften, mächtigen, alles beherrschenden Bauwerk vereinigen, von dessen Zinnen man die ganze Insel überblicken könnte! Doch schon wurde ihm das Unsinnige dieses Einfalls klar, und Hassan setzte wieder den Meißel an, noch ein wenig verwirrt, aber ohne Zögern – mit der Sicherheit dessen, für den andere denken.
[Herbert W. Franke: Der grüne Komet. München 1964]