Samstag, 6. Oktober 2012

Song des Tages: Die Kinder von Izieu



(Reinhard Mey: "Die Kinder von Izieu", aus dem Album "Immer weiter", 1994 - alternativer Link)

Sie war'n voller Neugier, sie war'n voller Leben,
Die Kinder, und sie waren vierundvierzig an der Zahl.
Sie war'n genau wie ihr, sie war'n wie alle Kinder eben
Im Haus in Izieu hoch überm Rhonetal.
Auf der Flucht vor den Deutschen zusammengetrieben,
Und hinter jedem Namen steht bitteres Leid,
Alle sind ganz allein auf der Welt geblieben,
Aneinandergelehnt in dieser Mörderzeit.
Im Jahr vierundvierzig, der Zeit der fleiß'gen Schergen,
Der Spitzel und Häscher zur Menschenjagd bestellt.
Hier wird sie keiner suchen, hier oben in den Bergen,
Die Kinder von Izieu, hier am Ende der Welt.

Joseph, der kann malen: Landschaften mit Pferden,
Théodore, der den Hühnern und Küh'n das Futter bringt,
Liliane, die so schön schreibt, sie soll einmal Dichterin werden,
Der kleine Raoul, der den lieben langen Tag über singt.
Und Elie, Sami, Max und Sarah, wie sie alle heißen:
Jedes hat sein Talent, seine Gabe, seinen Part.
Jedes ist ein Geschenk, und keines wird man denen entreißen,
Die sie hüten und lieben, ein jedes auf seine Art.
Doch es schwebt über jedem Spiel längst eine böse Ahnung,
Die Angst vor Entdeckung über jedem neuen Tag,
Und hinter jedem Lachen klingt schon die dunkle Mahnung,
Dass jedes Auto, das kommt, das Verhängnis bringen mag.

Am Morgen des Gründonnerstag sind sie gekommen,
Soldaten in langen Mänteln und Männer in Zivil.
Ein Sonnentag, sie haben alle, alle mitgenommen,
Auf Lastwagen gestoßen und sie nannten kein Ziel.
Manche fingen in ihrer Verzweiflung an zu singen,
Manche haben gebetet, wieder andre blieben stumm.
Manche haben geweint und alle, alle gingen
Den gleichen Weg in ihr Martyrium.
Die Chronik zeigt genau die Listen der Namen,
Die Nummer des Waggons und an welchem Zug er hing.
Die Nummer des Transports mit dem sie ins Lager kamen,
Die Chronik zeigt, dass keines den Mördern entging.

Heute hör' ich, wir soll'n das in die Geschichte einreihen,
Und es muss doch auch mal Schluss sein, endlich, nach all den Jahr'n.
Ich rede und ich singe und wenn es sein muss, werd' ich schreien,
Damit unsre Kinder erfahren, wer sie war'n:
Der Älteste war siebzehn, der Jüngste grad vier Jahre,
Von der Rampe in Birkenau in die Gaskammern geführt.
Ich werd' sie mein Leben lang seh'n und bewahre
Ihre Namen in meiner Seele eingraviert.
Sie war'n voller Neugier, sie war'n voller Leben,
Die Kinder, und sie waren vierundvierzig an der Zahl.
Sie war'n genau wie ihr, sie war'n wie alle Kinder eben
Im Haus in Izieu hoch überm Rhonetal.


(Gedenktafel am "Place des 44 enfants d'Izieu" in Paris)

Zitat des Tages: Vision 1928


Der Dollar stieg auf seinen Predigerstuhl und sagte: "Ich bin der Herr Dollar. Ich bin der Kaiser Dollar. Ich bin der Papst Dollar. Ich bin der Maßstab und die Elle, nach der alles gemessen wird. Ich bin das Herz der Welt. Von mir gehen die Ströme der unendlichen Fruchtbarkeit aus: Ich bin das Urkarnickel. Ich bin der liebe Gott!" - Hier erhob sich ein Windstoß und der Prediger wurde von seiner Kanzel geweht.

Ich sah, wie er landete. Ein Kind haschte nach ihm, freute sich über die hübschen Bilderchen, spielte mit dem Dings und wischte sich später mit dem Papiergott höchst unbefangen den kleinen Hintern ab.

(Anonyme Veröffentlichung aus dem "Simplicissimus", Heft 2 vom 09.04.1928, Seite 14)

Griechenland: Sparen, bis der Faschismus kommt


In Griechenland droht eine humanitäre Katastrophe. Immer mehr Menschen verarmen, das Gesundheitssystem bricht zusammen.

Während über einen neuen Schuldenschnitt für Griechenland spekuliert wird, trifft die Verelendung immer breitere Schichten der Bevölkerung. Ursache ist nicht nur die rasant steigende Arbeitslosigkeit, sondern auch der Kollaps des Gesundheitssystems, der eine humanitäre Krise auslöst. Viele Griechinnen und Griechen können sich ärztliche Untersuchungen und Medikamente nicht mehr leisten. (...)

Dieses Problem wird sich verschlimmern, weil die Zahl der Verarmten schnell wächst. Mit einem Brief an das Webportal Newsit hat ein 45jähriger aus Thessaloniki an seine Mitbürger appelliert: "Ich bin seit drei Jahren arbeitslos. Meine Familie lebt seit einem Jahr ohne Strom, weil wir die Stromrechnungen nicht bezahlen konnten. Wir haben seit sechs Tagen nichts gegessen. Ich will kein Geld, weil ich es nicht zurückgeben kann, sondern eine Arbeit. Egal, was für eine." (...)

Die Zahl der Selbstmorde nimmt rasant zu. In den vergangenen drei Jahren stiegen die Selbstmordversuche um 22,5 Prozent. (...)

Die dramatische Wirtschaftskrise und die steigende Kriminalität machen viele Bürger anfällig für die faschistische Propaganda. Die Neonazi-Partei Chrysi Avgi hat Umfragen zufolge immer mehr Zulauf. Alexandra D., eine 35jährige Beamtin, erzählt schockiert, dass viele ihrer Kollegen und Kolleginnen mit der Chrysi Avgi sympathisieren und die neonazistische Ideologie kaum noch Anstoß erregt: "Ein Kollege von mir hört alte Nazi-Lieder am Arbeitsplatz, ohne dass jemand darauf reagiert." Der griechische Schriftsteller und Blogger Giannis Makridakis warnt: "In diesem Winter wird Griechenland einem Land des subsaharischen Afrika ähneln, mit einer Gesellschaft, die zum Faschismus tendiert und auf eine faschistische Regierung wartet, die diese Gesellschaft repräsentieren wird."

(Weiterlesen - dringend empfohlen)

Anmerkung: Es kommt, wie es kommen musste - alle in diesem erschütternden Bericht genannten Katastrophen waren vorhergesagt und absehbar. Man kann daraus eigentlich nur den Schluss ziehen, dass die furchtbare Entwicklung in Griechenland genauso verläuft, wie sie offenbar geplant war - und die treibende Kraft dahinter ist die neoliberale Bande aus Deutschland mit Merkel an der Spitze.

In Spanien, Portugal und Italien wird es in Kürze nicht besser aussehen. Ich weiß nicht, wie es anderen geht - aber mir drängt sich hier fast der Verdacht auf, dass diese bewussten und offensichtlich gewollten Zerstörungen in ganz Europa dafür sorgen sollen, dass ein extrem instabiles Konstrukt entsteht, welches durch kleinste Anlässe in einen erneuten Krieg oder kriegsähnliche Zustände versetzt werden kann. Dazu passen auch wunderbar die trotz der Krise nicht nur in Griechenland explodierenden Staatsausgaben für das Militär. Oder fällt jemandem eine andere Erklärung für das beharrliche, an Idiotie grenzende Festklammern am "Sparkurs" (der in Wahrheit ein direkter Zerstörungskurs ist) bei gleichzeitig steigenden Rüstungsbudgets ein?

Derweil finden in Ungarn unter dem Beifall ganzer Bevölkerungsgruppen Pogrome gegen Sinti und Roma statt; der direkte Nachbar Griechenlands - die Türkei - droht Syrien ganz offen mit Krieg; und auch in Deutschland steigt die Zahl der Haushalte ohne Strom immer weiter und wird sicher bald die Millionengrenze überschreiten. Und der deutsche Kriegsminister fordert zeitgleich (extrem teure) bewaffnete Kampfdrohnen für die Bundeswehr und nennt diese "ethisch neutral" und "unverzichtbar". Kein Science-Fiction-Autor hätte sich im vergangenen Jahrhundert getraut, den totalen Irrsinn des realen Europas im Jahre 2012 so zu zeichnen - er wäre schallend ausgelacht worden.

Es war nach 1945 nie so wichtig in Europa wie heute, die Fahne der Solidarität hochzuhalten und der Bande der neoliberalen Zerstörer und Kriegstreiber ein überdeutliches "Nein!!!" entgegen zu schleudern - in einer Form, die sie nicht überhören oder missverstehen können.

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Berlin am Sonntag


"Ist der Mann unters Auto gekommen?" - "Nein, unter Nationalsozialisten!"

(Zeichnung von Erich Schilling [1885-1945], in "Simplicissimus", Heft 16 vom 18.07.1927)

Donnerstag, 4. Oktober 2012

Buchempfehlung: Sonne auf Kredit


Klappentext: Um die Natur vor der endgültigen Zerstörung zu bewahren und sie regenerieren zu lassen, hat man das Land systematisch entvölkert und die Menschen in Ballungszentren zusammengedrängt. Nur die Privilegierten leben außerhalb der Städte auf ihren weitläufigen Landsitzen. Man hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, hat ein Ventil offengelassen und Freizeitreservate eingerichtet, in denen sich die Werktätigen drei Wochen im Jahr austoben können.

Was die Urlaubsindustrie dort anbietet, ist geradezu fantastisch. Die Ferienlager sind bequem zu erreichen, dort kann man unter Cowboys kampieren, in Zigeunerwagen durch unberührte Wälder ziehen oder wie ein echter Indianer leben.

Nur - schnell ist der Spaß vorbei und es geht wieder zurück in die Städte, die riesigen unter- und oberirdischen Ballungsräume, in denen die Menschen auf engstem Raum eingepfercht sind, von früh bis abends schuften müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Für einen Aufenthalt in der Natur ertragen sie das erbärmliche, streng reglementierte Dasein, erbetteln Vorschüsse, um in den Genuss der Sonne zu kommen, und sei es auf Kredit.

Doch es zeigt sich, dass dieses Ventil auf die Dauer nicht ausreicht, dass auch ein psychologisch ausgeklügelter Machtapparat sich nicht auf Dauer halten kann, wenn der Druck der Ungerechtigkeit zu stark ist.

(Michel Grimaud [1937-2011]: "Sonne auf Kredit". Roman, 1975 französisches Original, 1980 deutsche Übersetzung)


Anmerkung: Mit diesem im doppelten Sinn fantastischen Buch will ich eine kleine, unregelmäßige Reihe eröffnen, um Euch einige der sehr zahlreichen Werke der dystopischen Literatur der Nachkriegszeit näher zu bringen. Es ist extrem auffällig, dass nahezu alle diese Werke ein ins Extreme ausgeweitetes neoliberales, also kapitalistisch orientiertes Szenario entwerfen, in dem eine stets sehr kleine, privilegierte "Elite" den Rest der Menschheit ausbeutet und versklavt.

Es ist wohl kein Zufall, dass es - gemessen an der Zahl der dystopischen Werke - nur eine erbärmliche, verschwindend geringe Anzahl an positiven Zukunftsszenarien in der Literatur dieser Zeit gibt. Das liegt meines Erachtens weniger an den vorstellbaren positiven Alternativen, sondern eher an den konkreten Erfahrungen der vergangenen Jahrhunderte.

Das hier in Rede stehende Buch von Michel Grimaud ist ein bezeichnendes Beispiel dafür, wohin der Kapitalismus uns führen könnte - und gänzlich "fantastisch" ist es längst nicht mehr, denn die Realität hat die Dystopie teilweise bereits eingeholt. Es ist heute aktueller und aussagekräftiger als in der Zeit, in der es geschrieben wurde.

Dienstag, 2. Oktober 2012

Empört euch: "Ein Gesellschaftsumbau historischen Ausmaßes"




Anmerkung: Diese Rede des Stuttgarter Theaterregisseurs Volker Lösch auf der Großdemo "Empört Euch!" auf dem Stuttgarter Schlossplatz vom 29.09.2012 lässt kaum Wünsche offen. Leider unterlässt auch Lösch es, das kapitalistische System an sich in Frage zu stellen und scheint statt dessen auf einen "regulierten Kapitalismus" zu setzen, wenn er im Gegensatz zu Merkels "marktkonformer Demokratie" von "demokratiekonformen Märkten" spricht - aber so ganz wird das aus seiner Rede nicht klar. Konstruktiv, richtig und wichtig sind aber die vorgetragenen Kritikpunkte und Fakten zur momentanen Situation - gut zusammengefasst und prägnant formuliert.

Solche Menschen brauchen wir.

Kriegsbegeisterung in der NED: "Eisen und Blut"


Die völkerrechtsfeindliche Verrohung des Bürgertums kennt keine Tabus mehr: Dr. Alexander Gauland (CDU) plädiert für eine Rückkehr zur preußischen Kriegsdoktrin

In zwei Jahren steht das hundertjährige "Jubiläum" des ersten Weltkrieges an. Bis zu 17 Millionen Menschenleben hat er vernichtet. Bei der nächsten hochmodernen Menschenschlächterei waren es dann 50 oder gar 70 Millionen Opfer. In meinen Jugendjahren (...) gehörte es noch zum Konsens bürgerlicher Anständigkeit, die Abgründe des 20. Jahrhunderts bei allem Nachsinnen über die menschliche Zivilisation zum Ausgangspunkt zu nehmen. Inzwischen sind längst andere Zeiten angebrochen. (...)

Ex-Bundespräsident Horst Köhler hielt sich in einem Interview allerdings nicht an die offiziellen Sprachregelungen und plauderte allzu offenherzig über die militärische Seite der deutschen Exportweltmeisterschaft. Nach seinem Rücktritt hat das ein Minister für das Militärressort wie Karl-Theodor zu Guttenberg nachdrücklich gelobt.

Der derzeitige Bundespräsident Joachim Gauck klagt über eine "glücksüchtige Gesellschaft" und wünscht sich - gut preußisch und staatsprotestantisch - wieder mehr Opferhingabe im Dienste von kriegerischen Auslandseinsätzen. Das war aber mal nötig, dass das einer sagte, meinten auch sozialdemokratische und grüne Stimmen. Und nun also werden wir, die wir laut Gauland noch ganz gefangen sind in einem "diffusen Ganzkörperpazifismus", dieser Tage wieder hin zu Clausewitz und Bismarck geführt ...

(Weiterlesen)

Anmerkung: CDU-Mann Gauland, dessen Name Programm zu sein scheint, hatte im Tagesspiegel vom 23.07.12 u.a. geschrieben: "Die Deutschen haben ein gestörtes Verhältnis zur militärischen Gewalt. Sie betrachten sie nicht als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln im Sinne von Clausewitz, sondern als das schlechthin Böse und Falsche, als ein Mittel, aus dem nie und unter keinen Umständen Brauchbares entstehen könne. (...) Statt (...) immer von Neuem die pazifistische Melodie zu singen, wäre es klug, eine politische zu intonieren, weil eben militärische Gewalt (...) nicht an sich schlecht, sondern nur als falsche Politik schlecht ist. Das aber setzt voraus, dass die Deutschen wieder eine Tatsache der Weltgeschichte akzeptieren lernen, die Bismarck in seiner ersten Regierungserklärung als preußischer Ministerpräsident 1862 in die berühmten Worte fasste: 'Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden - das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen - sondern durch Eisen und Blut' [Hervorhebung von mir]."

Was soll man dazu noch sagen? Selbstverständlich ist militärische Gewalt - also Krieg - das "schlechthin Böse und Falsche". Es ist völliger Irrsinn, dass ausgerechnet in Deutschland parteiübergreifend wieder andere Töne laut werden und sogar Bismarck-Zitate von "Eisen und Blut" aus der Geschichtstruhe gezerrt werden. Der imperialistische Feldzug der neoliberalen Bande steht offenbar erst an seinem Anfang - nach und nach wird die Öffentlichkeit weiter darauf vorbereitet, dass Wirtschaftskriege auch in Zukunft zum "normalen Repertoire" der Politik gehören werden. Das 21. Jahrhundert soll offenbar eine direkte Kopie des 20. Jahrhunderts werden - vielleicht nur mit geringfügig verschobenen Kriegsschauplätzen und natürlich mit "moderneren, effektiveren" Waffen.

Gauland und die übrigen Säbelrassler und Kriegsrhetoriker sollte man unverzüglich mit einem hübschen Arsenal an Schusswaffen tief in der Asse einschließen - dort unten können sie sich dann gegenseitig jagen, verstümmeln und ermorden und tun niemandem sonst weh. Und wenn sie dazu wider Erwarten doch keine Lust haben sollten, können sie alternativ ihre Atommüllfässer einsammeln und sichern.

Dieses widerliche, kriegstreiberische Pack kotzt mich so dermaßen an, dass ich mich vorsichtshalber selbst zensiere und auf George Grosz verweise, bevor ich dem Karikaturisten das Feld überlasse:

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Te deum laudamus! [Dich, Gott, loben wir!]


Dankgottesdienst der internationalen Rüstungsindustrie nach Beendigung der Londoner Konferenz.

(Zeichnung von Erich Schilling [1885-1945], in "Simplicissimus", Heft 6 vom 05.05.1930)

Montag, 1. Oktober 2012

Zitat des Tages: Rachegelüst


Wenn die Menschen dumpf sich nicht getraun,
Wenn sie feig und heuchlerisch sich fügen
Und ihr Glück auf ihre Schlauheit baun,
Redliches bedrücken und betrügen.

Wenn sie schleichen, flüstern und sich ducken,
Andrerseits aus Würde sich geniern, --
O dann müsste etwas explodiern.
Und ein Riese müsste sich erheben

Über sie und sie nicht etwa töten,
Sondern saftig, kräftig sie bespucken,
Um sie für ihr weitres Leben
Als verschleimte, fette Warzenkröten
In ein Glashaus einzusperrn.
Und ich würde durch die Scheiben gucken
Und sie grüßen: "Hochverehrte Herrn!"

(Joachim Ringelnatz alias Hans Gustav Bötticher [1883-1934], in "Simplicissimus", Heft 49 vom 07.03.1927)

10 Jahre Hartz-Terror - und kein Ende in Sicht


Das System der Hart(z)herzigkeit / Hartz IV hat Deutschland verändert. Die Schwachen dürfen jetzt öffentlich verhöhnt werden und bekommen nur das Nötigste. Solidarität und Hilfe werden von Amts wegen unterbunden.

(...) Hartz IV ist ein System der organisierten sozialen Kälte und der Herzlosigkeit. Engagement, Mitgefühl und Solidarität, diese Werte, die Berliner Spitzenpolitiker stets beim Bürger einfordern, versagt dieses System den Schwachen oder es gewährt sie nur in minimalen, bürokratisch abgemessen Dosen. Und schlimmer noch, Hartz IV unternimmt alles, um menschliche Werte in der Gesellschaft auszurotten. (...)

Nein, das ist keine Vision einer Gesellschaft, mit der ich mich anfreunden will. Nach zehn Jahren Hartz IV schäme ich mich zutiefst für diesen Staat.

(Weiterlesen)

Anmerkung: Dieser kleine Kommentar, der nur einige wenige unhaltbare Probleme von vielen beim Namen nennt, die mit dem unsäglichen Hartz-Terror verbunden sind, stellt auch für den Stern nur eine Ausnahme dar - auch in diesem Blatt wird regelmäßig heftig Stimmung gegen Schwache und Arme betrieben, wie sie übler kaum ausfallen könnte.

Des weiteren ist es natürlich längst nicht ausreichend, sich einzig "für diesen Staat" zu schämen, also für die ausführenden Organe dieser Schikanen und Drangsalierungen. Noch viel mehr muss man sich schämen für die rot-grün-schwarz-gelbe politische Bande sowie die beteiligten Lobbyisten aus der Wirtschaft und sogar den Gewerkschaften, die an der Schaffung und Zementierung dieser asozialen Unterdrückungszustände der "Agenda 2010", an der Zwangsverarmung und Halbkriminalisierung von Millionen von Menschen in diesem Land verantwortlich sind und waren. Und selbstredend muss man aus diesem vehementen Schämen entsprechende Konsequenzen ziehen. Wenn ich beispielsweise lese: "Kein Wunder, dass es inzwischen Hinweise auf ernährungsbedingten Minderwuchs bei Hartz-Kindern in Deutschland gibt. Mickerkinder gab es in der Geschichte schon häufiger, etwa damals, als die Indianer Südamerikas unter die Herrschaft der Konquistadoren geprügelt wurden." - dann erfüllt mich das mit brodelndem Zorn auf die Verantwortlichen und mit dem unbändigen Wunsch nach dauerhafter Hilfe für die betroffenen Menschen.

Von den Knopfleisten- und Schlips-Borg der neoliberalen Einheitspartei ist in dieser Hinsicht jedoch weniger als nichts zu erwarten - sowohl SPD und Grüne, als auch CDU/CSU und FDP werden weiter für die Zementierung, die Verschärfung und die Ausweitung auf weitere Bevölkerungsteile der asozialen Zustände sorgen. Wenn sie nicht endlich, endlich gestoppt werden.

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1931 [Ein neues Jahr der Angst]


"Nur keine Angst, dein Vorgänger hat auch durchgehalten!"

(Zeichnung von Karl Arnold [1883-1953], in "Simplicissimus", Heft 41 vom 05.01.1931)