Der deutsche Faschismus brauchte sechs Jahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen. Der Neoliberalismus schafft das locker in gut einem Jahr. Ein Gespräch mit Jean Ziegler
(...) Der "World Food Report" der UN sagt: Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, 57.000 Menschen jeden Tag. Von den sieben Milliarden Menschen, die es heute auf der Welt gibt, ist ein Siebtel permanent schwerstens unterernährt. Zugleich stellt der Report aber fest, dass die Weltlandwirtschaft nach dem heutigen Stand der Produktivkräfte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren kann. Anders als noch vor wenigen Jahrzehnten gibt es heute keinen objektiven Mangel mehr – das Problem ist nicht die Produktion, sondern der Zugang zur Nahrung. Und der hängt von der Kaufkraft ab – jedes Kind wird ermordet, das während unseres Gesprächs verhungert. (...)
Die US-Firma Cargill Incorporated hat vergangenes Jahr 31,8 Prozent des weltweit gehandelten Getreides kontrolliert, die Dreyfus Brothers 31,2 Prozent des Reises. (...)
Laut Weltbank müssen 1,2 Milliarden Menschen von weniger als einem Dollar pro Tag leben – sie hausen in den Slums der Welt: in Manila, Karatschi, Mexiko-Stadt, Sao Paulo usw. Von dieser winzigen Summe müssen Mütter ihre Kinder ernähren – wenn die Lebensmittelpreise explodieren, verhungern sie. (...)
Aber Hunderte von Millionen Tonnen Nahrungsmittel auf einem Planeten [als "Agrar-Treibstoffe"] zu verbrennen, wo alle fünf Sekunden ein Kind verhungert, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. (...)
Das, was die Kommissare in Brüssel anrichten, ist abgrundtief verlogen: Durch ihre Dumpingpolitik fabrizieren sie den Hunger in Afrika – und wenn die Hungerflüchtlinge sich nach Europa retten wollen, werden sie mit militärischen Mitteln brutal ins Meer zurückgeworfen, wo jedes Jahr Tausende ertrinken. (...)
Laut ECOSOC-Statistik sind vergangenes Jahr 52 Millionen Menschen Epidemien, verseuchtem Wasser, Hunger und Mangelkrankheiten zum Opfer gefallen. Der deutsche Faschismus brauchte sechs Kriegsjahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen – die neoliberale Wirtschaftsordnung schafft das locker in wenig mehr als einem Jahr.
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Anmerkung: Jean Ziegler wird trotz seines hohen Alters (er ist inzwischen 78 Jahre alt) nicht müde, immer weiter für den Humanismus zu streiten - ich verehre diesen Mann sehr! Seine immer wieder vorgetragenen, allzu erschreckenden Fakten zur furchtbaren Lage der Menschen in Afrika, Asien und anderswo sowie die offensichtlichen, kapitalistischen Ursachen und die Nennung der Verursacher machen mich üblicherweise sprachlos vor lauter Entsetzen.
Jedes Mal wieder frage ich mich angesichts dieser Fakten: Wie kann es nur sein, dass ein so offensichtlich menschenfeindliches, untaugliches, geradezu perverses System wie der Kapitalismus dennoch über so viele Jahrhunderte und auch jetzt zunehmend solche Triumphe feiert? Wieso halten die Mächtigen dieses Planeten so stur und unbeirrbar an diesem System fest, während für jeden doch klar erkennbar ist, dass es nur für eine verschwindend kleine Minderheit von individuellem Vorteil ist? Und jedes Mal komme ich wieder zu demselben Schluss: Sie tun es, weil sie diese Einteilung der Menschheit in eine große ausbeutbare und "minderwertige" Masse auf der einen und eine "Elite", zu der sie sich selber zählen, auf der anderen Seite toll finden. Mit anderen Worten: Diese Mächtigen sind nichts anderes als schnöde, dumpfe Faschisten. Jeder Mensch, der das System, das Ziegler in diesem Interview wieder einmal grob umreißt, stützt oder "als das geringste Übel" ansieht, muss sich diese Etikettierung gefallen lassen.
Ich halte Zieglers Formulierung - "Für die Völker des Südens hat der dritte Weltkrieg längst begonnen" - keineswegs für eine Übertreibung: die Zahlen und Fakten, die er nennt, sprechen eine sehr deutliche Sprache. Es ist auch kein Zufall, dass auch im Westen allmählich dieselben Zustände Einzug halten - auch die Hungernden, Obdachlosen, des ehemaligen Mini-Wohlstands Beraubten in Griechenland, Spanien oder Portugal von heute kennen wir aus der Geschichte des Kapitalismus nur allzu gut. Der "dritte Weltkrieg" hat in der Tat längst begonnen, aber er ist noch lange nicht überall dort angekommen, wo er auch wüten wird. Und wieder einmal ist es die "Elite", die diesen Krieg gegen alle anderen führt - wie immer aus reinen, widerlichen Profitinteressen.
Nur in einem Punkt muss ich Ziegler energisch widersprechen, nämlich wenn er behauptet, Deutschland sei "die wohl lebendigste Demokratie Europas". Da kann ich als Deutscher nur in grölendes Gelächter ausbrechen - selbst die konservative Schweiz, aus der Ziegler stammt, hat eine lebendigere Demokratie als das tote Deutschland. Hierzulande beschränkt sich die Demokratie auf hochalberne politische Wort- bzw. Werbehülsen, beständige und zunehmend erfolgreiche staatliche Angriffe, eine diktatorisch geschlossene kapitalistische Propagandapresse und einen bleiernen Winterschlaf der ausgebeuteten, dumpfen Bevölkerung, der einen Humanisten in die pure Verzweiflung treiben muss.
Woher bloß nimmt Herr Ziegler die Kraft, trotzdem weiter am Ball zu bleiben und nicht irgendwann einfach abzuwinken und den Perversen der Eigennutzmaximierung (= Kapitalisten) das Feld zu überlassen, das sie sowieso schon längst besetzt haben? Mir fehlt diese Energiequelle immer öfter.
Derweil richtet die neoliberale Bande auch Europa wieder einmal zugrunde - mithilfe derselben Rezepte wie schon unzählige Male zuvor:
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Notverordnung
"Der arme kleine Michel kann nicht an die Suppe heran - wir müssen die Tischbeine um 10% kürzen - aber natürlich auch die Stuhlbeine." - "Der Effekt ist zwar nicht sogleich ersichtlich, aber immerhin recht befriedigend. Schlimmsten Falles muss man die Operation wiederholen."
(Zeichnung von Wilhelm Schulz [1865–1952], in "Simplicissimus", Heft 40 vom 04.01.1932)