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Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. – So lag ich und wartete; ich musste warten. Ohne einzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören, Brücke zu sein.
Einmal gegen Abend war es – war es der erste, war es der tausendste, ich weiß nicht, – meine Gedanken gingen immer in einem Wirrwarr und immer in der Runde. Gegen Abend im Sommer, dunkler rauschte der Bach, da hörte ich einen Mannesschritt! Zu mir, zu mir. – Strecke dich, Brücke, setze dich in Stand, geländerloser Balken, halte den dir Anvertrauten. Die Unsicherheit seines Schrittes gleiche unmerklich aus, schwankt er aber, dann gib dich zu erkennen und wie ein Berggott schleudere ihn ans Land.
Er kam, mit der Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine Rockschöße und ordnete sie auf mir. In mein buschiges Haar fuhr er mit der Spitze und ließ sie, wahrscheinlich wild umherblickend, lange drin liegen. Dann aber – gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal – sprang er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. Wer war es? Ein Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter? Und ich drehte mich um, ihn zu sehen. – Brücke dreht sich um! – Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte, und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich immer so friedlich aus dem rasenden Wasser angestarrt hatten.
(Franz Kafka [1883-1924]: "Die Brücke", entstanden 1916/17, erst posthum veröffentlicht, in "Nachgelassene Schriften und Fragmente 1", hg. von Malcolm Pasley, 1993)
Anmerkung: Es gibt nur wenige Texte, die unsere furchtbare Zeit so gut beschreiben wie dieses kleine Juwel von Kafka. Ich lese seit geraumer Zeit immer wieder in irgendwelchen abstrusen Interviews oder anderen Berichten, das Werk Kafkas sei "unzugänglich", "sperrig" oder gar "schlecht zu verstehen" - und kann mit solchen leichtfertigen Urteilen so gar nichts anfangen. Was soll beispielsweise an diesem Text so "unzugänglich" sein? Da kann ich immer wieder nur ermuntern: Leute, werft doch Euer Gehirn an - es ist zu wesentlich mehr fähig als nur zur schnöden Reproduktion, Geldbeschaffung, verdummenden Unterhaltung und zum Konsum - auch wenn der Kapitalismus gar nicht mehr von Euch verlangt bzw. Euch gar nicht mehr zubilligt als diese elementaren Basisfunktionen.
Man kann lange Aufsätze über diesen kleinen Text schreiben, und sie sind alle "erlaubt" - denn es gibt keine "richtige" oder "einzig gültige" Interpretation von Texten, zumal aus der Feder Kafkas; es gilt wie immer in der Kunst: Das Ergebnis entsteht erst beim Rezipienten und nicht schon im Hirn des Künstlers. Der kann zwar eine bestimmte Intention verfolgen und tut das zumeist auch, aber ob das auch genauso bei anderen Menschen ankommt, ist eine völlig andere Frage. Das ist wirkliche Kreativität: Bemühe Deine eigenen Gedanken, wenn Du etwas liest, ansiehst oder anhörst - und scher Dich erst einmal nicht darum, was der Urheber damit vielleicht gemeint haben könnte. Mit diesem Ansatz liest sich auch jeder Text von Kafka völlig flüssig und ist weit entfernt von irgendeiner herbeifabulierten "Sperrigkeit".
Wenn man tiefer einsteigen und den Künstler - den Menschen - vielleicht besser kennen und verstehen lernen will, kann man sich immer noch näher mit seiner Biografie, seinem Leben und Werk beschäftigen. Ob die Interpretationen dann stets an Qualität gewinnen, will ich aber generell in Frage stellen. Letztlich ist es doch immer bedeutender, was ein Kunstwerk konkret auslöst oder bewirkt - und nicht das, was der Urheber möglicherweise ursprünglich im Sinn hatte.
Ich möchte nicht in der bedauernswerten Lage sein, in der heutigen gruseligen Zeit beispielsweise eine Abi-Klausur über Kafka schreiben zu müssen - da wird sicherlich nach strengsten neoliberalen Maßstäben und Kategorien beurteilt, welche Interpretationen "richtig" und welche "falsch" sind. Jene Maßstäbe dürften - ebenso wie das neoliberale, kapitalistische System an sich - dermaßen abstrus und absurd sein, dass ein wacher, eigenständiger Geist gar nicht anders kann als daran komplett zu verzweifeln und sich in eine wirklich kafkaeske Alptraumwelt gestoßen zu sehen.
Was ja auch der Realität entspricht.
(Edguy: "Wasted Time", aus dem Album "Rocket Ride", 2006)
The dream is over, no-one's to take the blame
We believed in roses but only thorns remain
When I look into the rearview mirror
We create and we destroy
Put our blood into a street with a dead end
Walk up that stairway to jump off into the black
Here we go!
We go all the way - do we need the pain?
Waking up in a black tomorrow!
I've been there before - was it all wasted again?
We go all the way - do we need the pain?
Waking up in a black tomorrow!
I've been there before - was it all just wasted time?
Maybe I am different, maybe I'm a fool
And I wonder if it's worth it
Trying to find another you
And I look into the rearview mirror
Just to see how fucked I look
While I drive along that street with a dead end
Like a moth to the flame, it's gonna suck me into pain
Still we go!
We go all the way - do we need the pain?
Waking up in a black tomorrow!
I've been there before - was it all wasted again?
We go all the way - do we need the pain?
Waking up in a black tomorrow!
I've been there before - was it all just wasted time?
What are we heading for, why do I dare again?
Once bitten, twice shy and still we never learn
So here I'm lying - a leisure-poet in pain
Involuntary loner, I know that life is just a game
Where nobody gets out alive - a sedative shot for me
No happy man gets out alive - neither of us, you will see
Here we go!
We go all the way - do we need the pain?
Waking up in a black tomorrow!
I've been there before - was it all wasted again?
We go all the way - do we need the pain?
Waking up in a black tomorrow!
I've been there before - was it all just wasted time?
Anmerkung: Baby, schüttel' dein Haar für mich ... - Es gibt sie noch, die guten, alten Rocker, die noch wissen, dass eine Gitarre nicht bloß ein Begleit- und Rhythmusinstrument ist und die ihre Wurzeln bei Deep Purple, Rainbow, Uriah Heep oder den frühen Iron-Maiden-Werken in Ehren halten. Mir wird immer so nostalgisch zumute, wenn ich sowas höre. ;-) Und ganz nebenbei gibt der Text - wenn er auch auf eine gescheiterte Liebesbeziehung gemünzt sein dürfte - auch einen wunderbaren Abgesang auf unsere schöne, kapitalistische Glitzerwelt ab, von der die billigen Fassaden derzeit gleich zentnerweise abblättern und nur noch rauchende Ruinen offenbaren - "waking up in a black tomorrow".
Prozess gegen Jugendpfarrer König platzt / Mit Videos will die Dresdner Polizei vor Gericht beweisen: Jugendpfarrer König hat bei einer Demo in Dresden dazu aufgefordert, Beamte zu attackieren. Doch jetzt kommt heraus: Der Film ist zusammengeschnitten, die Originalaufnahmen lassen den Fall in neuem Licht erscheinen.
(Weiterlesen)
Anmerkung: Wir sollten uns das einmal auf der Zunge zergehen lassen: In der polizeilichen und gerichtlichen Farce um Lothar König, der gegen Nazis demonstriert hatte, ist nun aufgeflogen, dass die Polizei jene "belastenden Beweise" dreist und noch dazu schlecht gefälscht hat, die der Staatsanwaltschaft als Anklagegründe dienten. Dieser Vorgang an sich ist schon so ungeheuerlich, dass der Mund sperrangelweit offen stehen bleibt. Die sich anschließenden Fragen - die von der Kuh-Presse bislang natürlich nicht gestellt wurden -, verursachen aber gleich noch schlimmere Bauschschmerzen: Was wusste die Staatsanwaltschaft davon? Und welche Motivation hat jene Polizisten zu ihren Fälschungstaten getrieben? Es ist doch wohl kaum davon auszugehen, dass da irgendwelche kleine Beamte von selbst auf die Idee gekommen sind, frei nach dem Motto: "Hey, dieser linken Sau zeigen wir's jetzt mal - wir fälschen Beweise, jubeln die der Staatsanwaltschaft unter und bringen den Penner einfach mal in den Knast!"
Auszuschließen ist ein solches Szenario zwar nicht, aber wahrscheinlicher wird es dadurch auch nicht. Für mich riecht das sehr stark nach Anweisungen von "weiter oben", die da ausgeführt worden sind - oder werden bei der Polizei inzwischen auch (wie bei den Hartz-Terror-Behörden üblich) "Prämien" für erteilte Sanktionen an beliebigen Mitbürgern an die beteiligten Beamten ausgezahlt? Überraschen würde mich selbst das nicht mehr.
In jedem Fall werden uns die Propagandamedien - falls das Thema überhaupt weiter behandelt wird - schon sehr bald das bewegende Märchen von dem "bedauerlichen Einzelfall" und den "wirren Einzeltätern" erzählen, während der Unrechtsstaat immer weiter furchtbare Gestalt annimmt. Erst gestern berichtete "Report Mainz" über Abschiebegefängnisse, in denen Menschen inhaftiert sind, denen erst gar nicht das Recht auf einen Asylantrag gewährt wurde, und über obligatorische (!!) Strafverfahren (!!!) gegen Flüchtlinge: "Es handelt sich um Schnellverfahren. Sehr oft sind [die Flüchtlinge] in weniger als 15 Minuten, ohne jeden Verteidiger [und ohne Dolmetscher - sie haben also keine Ahnung, worum es da eigentlich geht, Anm.d.Kap.], zu Haft- oder Geldstrafen verurteilt." In einem solchen verkommenen Unrechtsstaat kann es nicht weiter verwundern, dass Polizisten Beweise fälschen bzw. die Order dazu erhalten.
Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, wieso ausgerechnet ein Jugendpfarrer, der gegen Nazis auf die Straße geht, dieser korrupten Bande ein solcher Dorn im Auge ist, dass sie ihn unbedingt aus dem Weg räumen will. Gehen die Pläne dieser irrsinnigen und habgierigen Menschenfeinde am Ende doch wieder in eine faschistische Richtung, die ich mir nicht einmal in wildesten, finstersten Verschwörungsmomenten auszudenken vermag? Wieso ausgerechnet Lothar König? Oder war er nur ein willkürliches, zufälliges Opfer dieser widerlichen Maschinerie, an dem ein "Exempel" statuiert werden sollte?
Wie man es auch dreht und wendet, das Fazit bleibt dasselbe: In Sachen Korruption, staatlicher Willkür und Repression, Kapitalarschkriecherei, politisch-neoliberalem Einheitsbrei, Habgier, Unrecht und Faschismus kann es unsere heutige böse Zeit ganz locker mit den Weimarer Jahren aufnehmen. In Sachen Totalüberwachung der BürgerInnen bei gleichzeitiger Totalapathie der Massen angesichts der offenkundigen Schreckensszenarien sind wir dieser Zeit allerdings weit, sehr weit voraus. Da mag sich einjede/r selbst ausmalen, was wohl diesmal am Ende dieser Entwicklungen herauskommen wird. Ich gehe davon aus, dass "Fälscherwerkstätten der Polizei" dann eines der eher kleineren Übel sein werden, mit denen sich die Menschen herumplagen müssen.
Aber das kennen wir ja schon alles.
Nein, ich verfalle nicht erneut in eine Lobpreisungshudelei, sondern lege Euch einfach energisch nahe, auch den aktuellen Gärtner-Text in der Titanic Online wieder aufmerksam zu lesen. Jeden weiteren Kommentar dazu spare ich mir - Gärtner sagt alles und das wie gewohnt sehr prägnant.
Ich will ein Kind von dem.
Außerdem konsumiere ich solche Abführmittel, Gehirnmassevernichter oder Depressionsverstärker wie "Wetten dass", "Phantom der Oper", "Fußball" oder "Pur" niemals oder nur über meine Leiche, so dass ich ohnehin wenig zum originären Thema beitragen könnte. Was ich aber am Rande noch anbringen möchte, ist ein kleines Plädoyer für den Roman "Das Phantom der Oper" von Gaston Leroux (erschienen erstmals 1909/10), der allen Kritiken zum Trotz weitaus besser ist als sein Ruf. Was Lloyd-Webber und vor und nach ihm andere Kassenklingler der Film- und Musik-Unterhaltungsindustrie daraus gemacht haben, wird dem Originaltext jedenfalls in keiner Weise gerecht. Wer E.T.A. Hoffmann, E.A. Poe oder auch Theodor Storms "Der Schimmelreiter" mag, wird den Roman von Leroux lieben. Wem hingegen Lloyd-Webbers Extremkitsch-Musical gefällt, braucht sich das Buch gar nicht erst ins Regal zu stellen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf den Reclam-Band "Gespenstergeschichten", hg. von Dietrich Weber, 1989, hinweisen, der eine sehr ausgewogene und umfangreiche Auswahl an literarischen Stücken dieses Genres enthält. Motto: Wenn die Realität schon so gruselig und absurd ist, dass sie jede Fiktion mühelos überbietet, bleiben doch nur die fiktiven, fast schon heimeligen Gespensterwelten, um sich zumindest temporär zu flüchten und den Geist zur Ruhe kommen zu lassen.
Ob das nun eine großartig andere Qualität besitzt als die "Wetten dass"-Hirnvernichtung, höre ich schon manchen Kritiker murmeln - unbedingt, ja! Denn hier wird nicht Ablenkung und Abstumpfung propagiert und praktiziert, sondern eine gewollte und nachvollziehbare Stärkung eines "wachen Geistes". Eine Flucht ins Scheinidyll ist eben etwas grundsätzlich anderes als eine Flucht in die Dunkelheit.
Und das gilt - ebenfalls am Rande - nicht nur für Literatur und Musik, sondern für alle Bereiche des kreativen Schaffens und Genießens - inklusive der verpönten Welt der Computerspiele.
Ich hab meine Tante geschlachtet,
Meine Tante war alt und schwach;
Ich hatte bei ihr übernachtet
Und grub in den Kisten-Kasten nach.
Da fand ich goldene Haufen,
Fand auch an Papieren gar viel
Und hörte die alte Tante schnaufen
Ohn Mitleid und Zartgefühl.
Was nutzt es, dass sie sich noch härme –
Nacht war es rings um mich her –
Ich stieß ihr den Dolch in die Därme,
Die Tante schnaufte nicht mehr.
Das Geld war schwer zu tragen,
Viel schwerer die Tante noch.
Ich fasste sie bebend am Kragen
Und stieß sie ins tiefe Kellerloch. –
Ich hab meine Tante geschlachtet,
Meine Tante war alt und schwach;
Ihr aber, o Richter, ihr trachtet
Meiner blühenden Jugend-Jugend nach.
(Frank Wedekind [1864-1918]: "Die vier Jahreszeiten: Winter", Gedichte, 1905; zuerst als kabarettistische Moritat, 1902)
Anmerkung: Die "Logik" des Kapitalismus' konsequent zuende gedacht (und vielfach vertont). Staaten und Konzerne, gelegentlich auch einzelne Grüppchen oder Personen, handelten stets nach dieser eisigen Maxime - bis einschließlich heute -, ohne dass sich irgendwelche Richter dafür interessierten. Die kamen und kommen erst dann ins absurde Spiel, wenn der so genannte "kleine Mensch" die schändlichen Taten der Mächtigen und Superreichen zwecks der eigenen Bereicherung nachzuahmen versucht.
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Der Volkswirt
"Über eine Milliarde Mark wird täglich fürs Essen hinausgeworfen. Wie nützlich könnte man dieses Geld verwenden!"
(Lithografie von Paul Schondorff [1880-?], in "Simplicissimus", Heft 3 vom 20.04.1925)