Ein Gastbeitrag des Altautonomen
Nicht alles an der Agenda 2010 war schlecht. Aber es gibt zentrale Elemente, die den sozialen Zusammenhalt in Deutschland zerstört oder gefährdet haben, und da muss man ran. Die ganze prekäre Beschäftigung, das demütigende Hartz-System zum Beispiel. Hier sind Veränderungen dringend nötig.
(Dietmar Bartsch im Interview mit rp-online vom 28.10.2016)
Es ist nicht irgendein Hinterbänkler oder namenloses MdB aus der Provinz, der so etwas sagt, sondern der von der Basis auf den Schild gehobene Fraktionsvorsitzende der Partei DIE LINKE im Bundestag, der den Startschuss gibt für den Run auf die Futtertröge unter Aufgabe von bisher als "unverhandelbar" deklarierten Programmeckpfeilern. "Hartz IV" abzuschaffen, ist schließlich nicht mehr en vouge, wenn man sich inszestuös mit dessen Eltern ins Bett zu legen gedenkt. Mit "Veränderungen" könnte Bartsch höchstens den Verzicht auf Sanktionen meinen. Von der SPD und den Grünen ist allerdings nicht zu erwarten, dass sie es sich mit den Gönnern, Protegees und Lobbyisten, die sie bisher üppigst bedient haben, plötzlich wieder verscherzen.
Eitelkeit korrumpiert und führt nicht selten auch zum Positionswechsel
Was sich bei Bartsch verbal zugespitzt herauskristallisiert, ist die Einlösung der Tickets vieler Reform- und anderer Halblinker, auf diesen langsam anrollenden Zug "heim ins System" aufspringen zu dürfen. Wer sich als Publizist, Taschenträger, Schulterklopfer, Plakatekleber, Flugblattverteiler und fleißiger Blogger geschmeidig bei den Parteihäuptlingen anbiederte, sich entsprechend hartnäckig als pseudo-konstruktiver Kritiker des Systems oder als „schwerdenkender Parteisympathisant“ und Klugscheißer profilierte, hofft nun offenbar, dass mit dem sich intensivierenden, verlockenden Duft künftiger Diäten in einer rot-rot-grünen Koalition das Ende der eigenen Bedeutungslosigkeit und materiellen Zwangsbescheidenheit naht.
Schließlich haben linksliberale Schleimer ("Lilis") doch schon immer zu beweisen versucht, dass das kapitalistische System nicht abgeschafft werden könne, und sich gleichzeitig stets von all denjenigen dogmatisch distanziert, die bürgerliche Konservative als politisch pseudolinke Schmuddelkinder definierten: Antifa, Autonome, Anarchisten, Veganer, Feministen, Anarchisten und undogmatische radikale Linke. Völlig anders und damit nicht zu vergleichen ist ihr Umgang mit "Querfrontlern" aller Richtungen: Berührungsängste mit prominenten Vertretern diverser rechtsdrehender Grüppchen kennen sie nicht, da es angeblich so viele inhaltliche Übereinstimmungen (nicht aber mit den radikalen Linken) gebe. Beispielsweise halten sich einige Blogger offenkundig für tolerant und liberal, wenn sie auf ihren Plattformen Videos und Texte von Interviews mit Rechtspopulisten oder deren öffentlichen Reden publizieren.
Dieses Liebäugeln mit rechtspopulistischen Strömungen und die penetrante Tendenz, die Unterschiede zwischen Rechts und Links aufzuheben, zielen somit in Richtung "Querfront". Kritiker dieser unheilvollen Allianzen werden als "Spalter" und Zyniker diffamiert.
Reformistische Träume oder doch nur schnödes Eigeninteresse?
Hierarchische Verhältnisse, strukturelle Gewalt, repressive Intoleranz und das Gewaltmonopol des Staates werden von solchen "Lilis" nicht infrage gestellt, sondern als naturgegeben und verfassungskonform angebetet. Sie vergöttern die parlamentarische Demokratie als Ausdruck des Mehrheitswillens der Wählerschaft, sehen in den Gewerkschaften ein reformistisches Potenzial und träumen von der Übernahme des Staates "auf legalem Wege" anstelle sozialer Kämpfe. Die protestantische Arbeitsethik nebst der damit verbundenen Unfreiheit, Abhängigkeit und Ausbeutung ist für "Lilis" so etwas wie ein Naturgesetz. Ihre Vorstellungen vom "ökologischen und sozialen Gleichgewicht" entsprechen daher Ihrer Forderung nach "gerechter Umverteilung" statt rigoroser Enteignung (Abschaffung des privaten Eigentums an Produktionsmitteln) bzw. sozialer Revolution (Generalstreik).
Dem unvermeidlichen Vorwurf des Opportunismus' begegnen solche Leute reflexhaft mit dem Gegenvorwurf eines angeblichen Dogmatismus' der linken Kritiker, indem sie diese überheblich-spöttisch wahlweise als Vertreter der "reinen Lehre" oder als "die wahren Linken" verhöhnen. Ihre systemkonforme Liberalität mit pseudolinkem Feigenblatt bedeutet jedoch nichts anderes als dass sich diese Leute mit den Herrschenden über den Typus und die Anzahl der Opfer Ihrer "Reformen" endlich einigen möchten. Wer den unbändigen Willen der "Lilis" zur Macht bezweifelt, kann sich anhand exemplarischer Statements, Publikationen und nicht zuletzt auch Bloggertexte der letzten Zeit davon überzeugen. Diese Behauptung hier und jetzt zu dokumentieren, möchte ich mir wegen der zu erwartenden Kommentare einiger argumentationsbefreiter und kritikresistenter Leser meiner Texte ersparen.
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Anmerkung von Charlie: Es ist sehr schade, dass der Altautonome hier ganz bewusst auf die Nennung von Namen und illustrierenden Beispielen verzichtet. Mir fallen da auf Anhieb gleich reihenweise Hohlköpfe, Opportunisten, Schulterklopfer, Dampfplauderer, Papageien, esoterische Spinner und selbstverständlich ganze Legionen korrupter PolitikerInnen von der kommunalen bis zur Bundesebene ein, die man hier benennen könnte bzw. müsste - aber selbstverständlich respektiere ich die Entscheidung des Gastautors und halte mich hier entsprechend zurück.
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Lokalpolitiker
(Gemälde von George Caleb Bingham [1811-1879] aus dem Jahr 1849: "Country Politician", Öl auf Leinwand, Fine Arts Museum of San Francisco, USA.)