Samstag, 25. März 2017

Song des Tages: Ich will




(Rammstein: "Ich will", aus dem Album "Mutter", 2001)

Ich will

Ich will dass ihr mir vertraut
Ich will dass ihr mir glaubt
Ich will eure Blicke spüren
(Ich will) jeden Herzschlag kontrollieren

Ich will eure Stimmen hören
Ich will die Ruhe stören
Ich will dass ihr mich gut seht
Ich will dass ihr mich versteht

Ich will eure Fantasie
Ich will eure Energie
Ich will eure Hände sehen
(Ich will) in Beifall untergehen

Seht ihr mich?
Versteht ihr mich?
Fühlt ihr mich?
Hört ihr mich?

Könnt ihr mich hören?
(Wir hören dich)
Könnt ihr mich sehen?
(Wir sehen dich)
Könnt ihr mich fühlen?
(Wir fühlen dich)
Ich versteh euch nicht!

Wir wollen dass ihr uns vertraut
Wir wollen dass ihr uns alles glaubt
Wir wollen eure Hände sehen
Wir wollen in Beifall untergehen, ja

Wir verstehen euch nicht.


Freitag, 24. März 2017

Der redundante Einwurf (2): Die Glasschneiders und der olle Kommunist


Als ich vor einigen Jahren aus einer Millionenstadt in ein provinzielles Dorf zog, geschah das aus sehr konkreten Gründen. Einer davon war gewiss die explodierende Miethöhe in jener Stadt, der wichtigste aber war für mich persönlich mein allmählich zunehmendes Bedürfnis nach seniler Stille. Ich pflegte die idyllische, ländliche Vorstellung, dass ich an einem lauen Sommertag einfach mal entspannt auf dem Balkon oder im Garten sitzen könne, ohne ständig von irgendwelchen Motorgeräuschen unterschiedlichster Provenienz behelligt zu werden.

Diese Vorstellung hat sich inzwischen nachhaltig als infantiles, geradezu disneyhaftes Wunschdenken entlarvt, wie ich in einem ersten Einwurf bereits angedeutet habe. Aber damit ist das Fass gerade erst geöffnet und noch lange, lange nicht gehaltvoll beschrieben.

Ich habe in meinem dörflichen Idyll äußerst freundliche, hilfsbereite Nachbarn. Keiner von denen weiß, dass ich in Wahrheit ein fieser, kommunistischer Terrorist bin, der nachts heimlich in den Tank ihrer dämlichen SUV-Panzer uriniert und fleißig am Sturz des kapitalistischen Horrorsystems arbeitet – aber das soll hier und jetzt gar kein Thema sein. Ich konzentriere mich heute auf mein eigenes Spießertum und möchte meine liebe Nachbarfamilie vorstellen, die ich nur noch "die Glasschneiders" nenne.

Else, Fred und Elfriede

Direkt neben meiner Behausung steht ein nicht sonderlich großes, eher durchschnittlich kleines Haus, das dennoch einer sogenannten Generationenfamilie eine Heimstatt bietet: Dort leben auf kleinem Raum drei Generationen unter einem Dach. Da sind zunächst die Großeltern, die ich Else und Fred nenne; zudem hausen dort die Tochter Elfriede sowie ihr unauffälliger, da arbeitsbedingt nahezu nie anwesender Gatte samt insgesamt drei Kindern im Alter zwischen vier und acht Jahren. Soweit ist das also nichts weiter Besonderes.

Wenn – ja, wenn – da nicht die besonderen "Eigenarten" dieser Familie wären. Else beispielsweise besitzt eine Stimme, die man mit Worten nicht anschaulich beschreiben kann – ihr verdanken die Glasschneiders ihren trefflichen Namen. Diese Frau besitzt nicht die Fähigkeit, leise zu sprechen – immer wenn sie sich äußert (und das tut sie so verdammt oft), schreit sie. Diese Tonlage, die an kreischende Kreide auf einer Schultafel erinnert, ist der übliche Kommunikationsmodus dieser Dame. Flankiert wird sie von dem sonoren Bass ihres Gatten, dessen Stimme man auch dann, wenn er ganz "normal" spricht, bis zum übernächsten Straßenblock hören kann. Wir haben hier also ein Duo, das man mit dem Begriffspaar "grollendes Erdbeben trifft gellende Kreissäge" ziemlich gut charakterisieren kann.

Es verwundert nicht weiter, dass auch die Tochter Elfriede dieselben stimmlichen Merkmale aufweist wie die Frau Mama. Elfriede kommuniziert, ebenso wie die Oma, mit ihren drei Kindern, die sich (aus welchen Gründen auch immer) vornehmlich im Mini-Garten aufhalten, sobald das Thermometer über 3 Grad Celsius anzeigt, ausschließlich aus dem geöffneten Fenster des zweiten Obergeschosses, so dass das gesamte Tal, an dessen Hang jenes Haus – wie auch meines – steht, etwas davon hat. Der Nachhall der keifenden Glasschneiderstimme ist wirklich famos und wohl einzigartig. Mein Zuhause ist ein elfisches Paradies für Klang- und LärmforscherInnen. Es ist ein Faulfuß'sches Wunder, dass die Fensterscheiben meines Wohnzimmers sowie meine Trommelfelle und Weingläser noch immer intakt sind.

Es versteht sich von selbst, dass die Glasschneiders auch keine "normale" Kellertür besitzen – denn nur über jene können sie vom Haus aus den Mini-Garten betreten. Nein, Else und Fred haben da Anfang des 17. Jahrhunderts aus unerfindlichen Gründen eine dämonische Terrortür einbauen lassen, die sich nicht geräuschlos schließen lässt. Sobald also jemand den Garten betritt oder verlässt, was oft alle paar Minuten vorkommt, erfüllt ein sattes RRRUMMS! die dörfliche Idylle und ganze Heerscharen von lernunwilligen Vögeln und anderen Nachbarn fliegen erschrocken aus den Büschen, Bäumen und Gartenstühlen auf.

Ich möchte keine "Kinderschelte" betreiben – allerdings ist es nicht weiter verwunderlich, dass die stimmlichen Vorzüge von Else und Elfriede auch dem Nachwuchs nicht verwehrt geblieben sind. Ich kenne ja sehr viele Kinder und deren Lärm – aber nichts ist auch nur annähernd vergleichbar mit dem glasschneidenden Geplärre dieser drei bedauernswerten Kreaturen, die den Großteil ihrer Freizeit im Mini-Garten verbringen (müssen). Und wenn Fred dazu endlich auch die Kettensäge anschmeißt, um sich die Fußnägel zu schneiden, Kaminholz zu sägen oder einfach nur den Nachbarn auf den blutigen Sack zu gehen – was wahrlich nicht selten vorkommt –, ist ein idyllischer Sommertag im dörflichen Garten der romantischen Provinz erst so richtig perfekt.

Neulich, als ich naiv auf der Terrasse saß und angesichts der ersten zarten Frühlingssonnenstrahlen ein Buch zu lesen versuchte, schrie mir Elfriede vom Nachbargrundstück doch allen Ernstes urplötzlich zu, dass der Frühlingsbeginn doch eine herrliche Zeit nach dem langen Winter sei. Ich grinste debil und dachte dabei doch nur an Kettensägen, Zombies, Frost und Erschießungskommandos. Ich oller Kommunist!

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A View


(warandpeas.com)

Zitat des Tages: Bei der Nachricht von der Erkrankung eines mächtigen Staatsmanns


Wenn der unentbehrliche Mann die Stirn runzelt
Wanken zwei Weltreiche.
Wenn der unentbehrliche Mann stirbt
Schaut die Welt sich um wie eine Mutter, die keine Milch für ihr Kind hat.
Wenn der unentbehrliche Mann
eine Woche nach seinem Tod zurückkehrte
Fände man im ganzen Reich für ihn nicht mehr die Stelle eines Portiers.

(Bertolt Brecht [1898-1956]: "Gesammelte Werke in 20 Bänden", Suhrkamp 1968; geschrieben etwa 1944 und vermutlich Franklin D. Roosevelt gewidmet)



(Die übrigen Teile der Brecht-Folgen aus Lutz Görners Literaturgeschichte "Lyrik für alle" finden sich hier, hier, hier, hier, hier und hier.)

Mittwoch, 22. März 2017

Armut im Paradies


Es geht wieder einmal um das Thema Armut. Im goldenen, kapitalistischen Westen, der von allen politischen und medialen Seiten als das "Ende der Geschichte" bzw. das erreichte Paradies bejubelt wird, steigt die Armut unaufhaltsam weiter an. So hieß es vorgestern beim WDR exemplarisch:

Millionen Kinder "sozial abgehängt" / Rund 3,7 Millionen Jugendliche unter 18 Jahren sind bundesweit die Verlierer der jungen Generation. In NRW soll die "soziale Spreizung" besonders groß sein.

Ganz abgesehen von dem Umstand, dass der Fokus hier einmal mehr auf "die Kinder" gelegt wird – so als seien Erwachsene oder Alte hier nicht weiter relevant –, bleibt natürlich auch dieser Bericht des WDR ein heilloses, fast schon Lapuente'sches Geschwurbel, das weder mit der tatsächlichen Realität, noch mit den Hintergründen der grassierenden Armut etwas zu tun hat. Insbesondere die politischen "Forderungen", die hier bemüht werden, um dem unschönen Thema, das der kapitalistischen Erzählung im Wege steht, zu begegnen, regen doch eher zu sarkastischer Heiterkeit an, sofern man einen tiefschwarzen Humor besitzt.

Gleichzeitig wird hier einmal mehr das obszöne Märchen von der "Bildungsferne" nacherzählt, in dem es heißt, dass vornehmlich Menschen "ohne Berufsausbildung" zu den heutigen Armen gehören, die zudem oft "psychisch geschädigt" und "alkoholabhängig" seien und deshalb ihre Kinder nur mit einem "Trockentoast" statt einer "richtigen Stulle" in die Schule schickten. Da ist das Gehirn schon zu Gelee geworden. Ganz am Rande frage ich mich jedoch, was bitte ein "Trockentoast" sein soll? Gibt es auch "feuchte" Toasts und sind die irgendwie "nahrhafter"?

Auch die übliche Forderung nach "mehr Kita-Plätzen" ist hier selbstverständlich dabei. Ich stelle nach wie vor die Frage, ob es tatsächlich sinnvoll ist, Kinder im Vorschulalter in solchen Einrichtungen zu parken, damit die Eltern weiterhin der Ausbeutungsmaschinerie des Kapitalismus zur Verfügung stehen können. Ich weiß, das ist kein tragendes Argument, aber dennoch möchte ich feststellen, dass ich meine Kindheit vor der unweigerlich folgenden Schule ganz ohne irgendwelche Kindergärten verbracht und die Welt viel lieber auf eigene Faust – und ohne "pädagogische Anleitung" – entdeckt habe. Das war abenteuerlich – aber das nur am Rande.

Gestern gab es zu diesem Thema bei Zeit Online einen Beitrag, den ich hier auch verlinken möchte. Es handelt sich dabei um einen Auszug aus dem Buch "Das gespaltene Land. Wie Ungleichheit unsere Gesellschaft zerstört – und was die Politik ändern muss" von Alexander Hagelüken. Ich habe das Buch nicht gelesen – die hier veröffentlichten Passagen reichen allerdings aus, um mir jede Lust an der Lektüre nachhaltig zu nehmen. Ich zitiere:

Ein Auto. Mehrmals im Jahr in den Urlaub fahren. Ein Haus im Grünen. Die Kinder studieren lassen. Es sind Ziele wie diese, die den Lebensplan vieler Millionen Deutscher charakterisieren. Alle diese Ziele lassen sich unter einem Dach zusammenfassen: Die Menschen wollen einen Platz in der Mittelschicht. Zur Mittelschicht zu gehören war in der Bundesrepublik stets der Wunsch der Mehrheit. Und damit zugleich der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhielt. Es gab ja einen Plan, dem die schlecht bezahlte Lehrzeit unter dem autoritären Chef folgte, die unübersichtlichen Unijahre, das Zurechtfinden in der Berufswelt: ein Platz in der Mittelschicht mit anständigem Einkommen. Für das Auto, den Urlaub, das Haus und die Kinder. Ohne bei kleineren Ausgaben ständig aufs Konto gucken zu müssen. Dafür lohnten sich die Mühen, der Einsatz im Beruf.

Das schmerzt, da schreit der Intellekt, da geifert die Hirnrinde in schwefeligen Fasern. Es geht in diesem Text selbstverständlich nur um nationale Befindlichkeiten, die zudem so dermaßen infantil aufbereitet werden, dass selbst ein BLÖD-"Zeitungs"-Leser ins Stocken geraten müsste. Wer heute immer noch glaubt, dass die rot-grün-schwarz-gelbe Bande den Sozialstaat "nur aus Versehen" kastriert hat und dass dieselbe Bande das nun auch wieder rückgängig machen könne, gehört – und das meine ich völlig ernst – in die Psychiatrie. – Aber lesen wir weiter:

Angesichts dieser vielen Ursachen überrascht es nicht mehr, dass die Mittelschicht schrumpft. Es überrascht nur, dass die Politik dabei zusieht.

Nun fragt sich der geneigte Leser, der keine tatsächlichen Ursachen im Text gefunden hat, die dort auch nicht zu finden sind, wieso der Autor nun ausgerechnet davon überrascht ist, dass die Politik, die eben diese Zustände ja ganz bewusst herbeigeführt hat, nichts dagegen unternimmt. So könnte auch ein Tierpfleger im Zoo entsetzt fragen, wieso nicht endlich jemand etwas dagegen unternimmt, dass die Löwen ständig kiloweise Fleisch fressen. – Aber es geht noch weiter, denn der Autor hat selbstredend auch Lösungsvorschläge aus dem Kindergarten parat:

Es gäbe eine ganze Menge Antworten: von mehr Chancen durch Bildung über eine Entlastung von Steuern und Sozialabgaben über bessere Löhne bis zu mehr Unterstützung für Familien.

An dieser Stelle überfiel mich ätzendes Sodbrennen und ich musste eine Tablette schlucken, um mich nicht zu übergeben. Natürlich verwundert es mich längst nicht mehr, dass in den kapitalistischen Medien niemand mehr die Systemfrage stellt oder die völlig grotesken, unablässig zunehmenden Reichtümer der "Elite" antasten will, um zunächst die schlimmsten Deformierungen für die Ärmsten zu bereinigen – aber in dieser ekeligen Konzentration ist die kapitalistische Propaganda selbst bei Zeit Online (noch) nicht ganz so oft zu lesen.

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Der Gerichtsvollzieher


"Der Grund soll Ihnen vorläufig zur Nutzung überlassen bleiben. Den Ertrag aber müssen Sie abliefern, und den Spaten muss ich gleich mitnehmen!"

(Zeichnung von Max Radler [1904-1971], in: "Der Simpl", Nr. 6 vom April 1947)