Freitag, 30. April 2010

Arbeitswelt: Der Traum und die Realität

  1. Die Befreiung der Arbeit: Das 7-Tage-Wochenende

    Weltweit starren Manager fassungslos auf die Firma Semco: Was dort passiert, widerspricht allem, an was sie glauben. Die 3000 Mitarbeiter wählen ihre Vorgesetzten, bestimmen ihre eigenen Arbeitszeiten und Gehälter. Es gibt keine Geschäftspläne, keine Personalabteilung, fast keine Hierarchie. Alle Gewinne werden per Abstimmung aufgeteilt, die Gehälter und sämtliche Geschäftsbücher sind für alle einsehbar, die E-Mails dafür strikt privat, und wieviel Geld die Mitarbeiter für Geschäftsreisen oder ihre Computer ausgeben, ist ihnen selbst überlassen.

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  2. Sklavenwirtschaft

    Die Arbeitswelt hat sich in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren erheblich verändert. Immer mehr Menschen sind von schlechteren Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzverlusten betroffen oder bedroht. Die Ziele der Konzerne und Unternehmerverbände sind klar: Tarifverträge und Gesetze zum Schutz der arbeitenden Menschen sollen ihre Verbindlichkeit verlieren, damit sie den jeweiligen betrieblichen Bedürfnissen unterworfen werden können. Die bestehende Wirtschaftsordnung wird von Grund auf verändert. Das bedeutet für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: weniger Schutz, weniger Rechte, Einkommensverluste und oft menschenunwürdige Arbeitsbedingungen.

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Anmerkung: Wie sehr sich die reale Arbeitswelt in den vergangenen Jahren zu einem feudalen System zurückentwickelt hat, das immer mehr Menschen einem erheblichen Druck aussetzt und sie bis aufs Blut auspresst und ausbeutet, dürften fast alle Menschen inzwischen bemerkt haben. Wieso es dennoch keine breit diskutierten Alternativen zu dieser Perversion gibt, ist insbesondere den Mainstreammedien zu verdanken, die jeden derartigen Gedanken nicht einmal am Rande erwähnen. Wenn die Menschen umfassend informiert wären, hätten die neuen Feudalherren (und -damen) es nicht ganz so leicht, ihr perfides Spiel der Unterdrückung und Ausbeutung so wild zu treiben.

Folgen der Privatisierung (25): Die Berliner S-Bahn

Die Entgleisung

Versagende Bremsen, brechende Räder, Unfälle mit Verletzten: Die Berliner S-Bahn ist marode, kaputtgespart für die Rendite des Mutterkonzerns Deutsche Bahn. Ein Lehrstück darüber, was passiert, wenn ein Verkehrsunternehmen für die Börse fit gemacht werden soll.
(...)

Am 25. April 1945 war die Rote Armee im Begriff, Berlin zu erobern. Die Stadt war eingekesselt, sie wurde von großkalibrigen Geschützen beschossen. In den fünf Jahren zuvor war sie mehr als 300-mal aus der Luft bombardiert worden, manchmal waren bis zu 1200 Flugzeuge gleichzeitig am Himmel. An jenem 25. April waren dennoch von 1118 sogenannten S-Bahn-Viertelzügen – das sind zwei aneinandergekoppelte Wagen – 267 einsatzfähig. Also etwa ein Viertel. Dass der Verkehr trotzdem am selben Tag eingestellt werden musste, lag nicht an den Kriegszerstörungen, sondern am Kohlemangel, es gab keinen Strom mehr.

Im September 2009 fuhren von 630 Viertelzügen noch 163 – 25,87 Prozent. Ohne Beschuss und Rote Armee.

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Anmerkung: Ohne Worte - mit Ausnahme eines Kalauers: Bestaunen wir den Siegeszug des Neoliberalismus'.

Korrupte Demokratie: Im Netzwerk der Spender

Viele Großkonzerne unterstützen Parteien. Manche fördern ein bestimmtes Lager, andere betreiben systematisch politische Landschaftspflege. Eine Übersicht von ZEIT ONLINE

Seit 2002 müssen Spenden an Parteien über 50.000 Euro unverzüglich vom Bundestag veröffentlicht werden. ZEIT ONLINE analysiert die Großspenden. Im ersten Teil der Analyse sah man, dass bürgerliche Parteien mehr Großspenden erhalten als die linken Parteien. Und dass Banken und Versicherungen die spendenfreundlichsten Branchen sind. Im zweiten Schritt publizieren wir die Daten, nachdem sie einer Netzwerkanalyse unterworfen wurden. So lässt sich feststellen, wie die Spender zu den Parteien stehen: Bevorzugen sie ein politisches Lager oder streuen sie Geldbeträge über verschiedene Parteien, um politische Landschaftspflege zu betreiben?

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Anmerkung: In diesem Sumpf aus Lobbyismus und Korruption ist die Demokratie längst untergegangen. Es regieren uns keine "Volksvertreter", sondern die Verteter des Großkapitals und der Eigeninteressen. Nichts Neues also, aber in dieser komprimierten Form allenthalben lesenswert, wenn man die üblichen sprachlichen Entgleisungen der Mainstreammedien geflissentlich überliest. Denn auch die Zeit hält beispielsweise die CDU für eine "bürgerliche Partei" und die FDP für "liberal". Welch ein grotesker Unsinn das ist, erleben die Menschen ("Bürger") dieses Landes jeden Tag aufs Neue.

Mittwoch, 28. April 2010

Folgen der Privatisierung (24): Rente als Lottospiel - Mit Riester in den Ruin

Gut zu wissen, dass es wenigstens einen Menschen gibt, für den sich die Einführung der staatlich geförderten privaten Riester-Rente in jedem Fall gelohnt hat: für deren Schöpfer und Namensgeber nämlich, den ehemaligen Gewerkschaftsfunktionär und SPD-Arbeitsminister Walter Riester, der zwischen 2005 und 2009 mindestens 450.000 Euro für seine bei Banken, Finanzdienstleistern und Versicherungen außerordentlich gefragten Vorträge eingesackt und sich damit in der letzten Legislatur den Spitzenplatz unter den bestbezahlten Bundestagsabgeordneten mit Nebentätigkeiten gesichert hatte. (...)

Über die unter Schröder und Riester eingeleitete Zerschlagung der gesetzlichen Rente und die damit einhergehende Installierung einer staatlich bezuschussten privaten Rentenvorsorge ist bereits viel geschrieben worden. Die verheerenden Folgen der rot-grünen Rentenreformen für das gesetzliche Rentenniveau liegen inzwischen auf der Hand und sind für die Neurentner der letzten Jahre bereits schmerzlich spürbar. Die Altersarmut steigt; seit 2003 haben sich die Ausgaben für die Grundsicherung, die Senioren mit Niedrigstrenten unterhalb des Hartz-IV-Niveaus bekommen, mehr als verdreifacht. Noch düsterer ist der Ausblick für die Zukunft. Ab 2030 etwa wird ein Durchschnittsverdiener selbst nach 30 langen Beitragsjahren nicht über das Elendslos einer Rente von 660 Euro (in heutiger Kaufkraft gerechnet) hinaus sein. Wer nur 2000 Euro brutto verdient, darf für eine Rente auf diesem Level sogar 38 Jahre malochen. Entsprechend schätzt der Sozialverband Deutschland, dass mindestens 35 Prozent der heute Beschäftigten auf eine Rente unterhalb der Grundsicherung zusteuern. Im Osten Deutschlands soll dieses Schicksal sogar mehr als der Hälfte der Erwerbstätigen blühen.

(Weiterlesen und Teil 2)

Anmerkung: Sehr lesenswert und informativ - unbedingt zu empfehlen. Wenn Sie beide Teile gelesen haben, fragen Sie sich noch einmal: Wessen Interessen vertreten diese rot-grünen-schwarz-gelben Gesellen, die immer wieder gewählt werden, eigentlich? - Die Antwort dürfte spätestens dann auf der Hand liegen: Es sind nicht die Interessen der Bürger.

Das "Stockholmer Programm": Europa im Überwachungswahn

Der Europäische Rat hat auf dem EU-Gipfel im Dezember 2009 das "Stockholmer Programm" beschlossen. Dieses Mehrjahresprogramm für die Jahre 2010-2014 verknüpft die europäische Justiz- und Innenpolitik mit der Politik für Innere Sicherheit und erhebt den Anspruch, einen europäischen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger" zu schaffen. Die verabschiedete Agenda ist in den gängigen Medien im Wirbel um den Klimagipfel in Kopenhagen weitgehend untergegangen. Sie enthält unter anderem ein EU-weites Maßnahmenpaket im Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, den Ausbau polizeilicher, militärischer und geheimdienstlicher Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten und eine umfassende Agenda zur Flüchtlingspolitik.

Das Stockholmer Programm lenkt von den Ursachen für die Bedrohung der Sicherheit der Bürger ab und bedroht eher die Freiheit der Europäer/innen. Es ist eine Kopfgeburt von Überwachungsfetischisten, angefeuert von den Allmachtsfantasien der ökonomisch (und politisch) immer mächtiger werdenden IT-Konzerne.

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Anmerkung: Wer immer noch nicht glauben mag, dass wir Orwells Horrorvision aus "1984" näher sind als jemals zuvor in der jüngeren Geschichte, der lese diesen Artikel - oder gleich das "Stockholmer Programm" (pdf) selbst. Man kommt beim Lesen nicht auf den absurden Gedanken, dass es dort um "demokratische Rechtsstaaten" gehen könnte. Unterm Strich könnte man dieses Programm verkürzt vielleicht so zusammenfassen: Die "EU-Elite" wünscht sich ein schwer gesichertes, umzäuntes EU-Lager, das Menschen von außerhalb nicht hereinlässt (zumal dann, wenn es Arme, Flüchtlinge, Asylsuchende etc. sind), das aber sehr kapitaldurchlässig ist. Die "Lagerinsassen", also alle EU-Bürger, sollen im Gegenzug flächendeckend und lückenlos überwacht werden und alle Daten sollen zentral dauerhaft gespeichert werden. Und bei alledem spielen natürlich Konzerne eine zentrale Rolle. - Ist das nicht das Europaparadies, das wir uns alle so sehnlich wünschen? Nein? - Pech gehabt - es ist bereits beschlossene Sache.

Wahlkampf in NRW: Falsch, forsch und gefakt

(...) Bei Grünen und Sozialdemokraten in NRW ist nun eine Art rot-grüne Euphorie ausgebrochen, die auch hypnotische Züge trägt. Eine Mehrheit für Rot-Grün, so die Ansage, ist möglich, einfach weil es so sein muss. Das Chaos, das Schwarz-Gelb in Berlin anrichtet, ist ja in der Tat enorm. Was liegt also näher, als in NRW mit Volldampf einen Lagerwahlkampf zu inszenieren - so wie 2002 und 2005 im Bund?

Misstrauisch macht, dass Rot-Grün abrupt zum Wahlkampfstart ausgerufen wird; bis dahin war es überaus still um Rot-Grün gewesen. Die rot-grüne Inszenierung nun dient vor allem dazu, die Linkspartei im Mai unter 5 Prozent zu drücken. Und hinter diesem arg durchschaubaren Manöver steckt die ebenso zähe wie unrealistische Fantasie der SPD, die Linkspartei zerstören zu können. (...)

Außerdem irritiert die forsche Art, mit der Rot-Grün als Modell wiedergeboren wird. War da nicht was? Ist Rot-Grün 2005 im Bund nicht an sich selbst und der eigenen Ideenarmut verendet? Gab es nicht groß angelegte Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen und massiven Druck auf Arme? Bis heute fehlt, vor allem von den Grünen, eine selbstkritische Reflexion der Schröder/Fischer Ära.

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Anmerkung: Ein recht dünnes Artikelchen der taz, das aber erste Ansätze einer Besinnung auf kritischen Journalismus zeigt. Trotzdem wird die rot-grüne Propaganda natürlich weitergehen und von sämtlichen Medien auch verbreitet werden - die taz wird da sicher auch keine Ausnahme bilden. - Ob die Menschen in diesem Land wohl noch einmal so dumm sein werden wie 1998, als sie einen grundlegenden Politikwechsel wollten, Schröder und Fischer wählten - und dafür mit genau der neoliberalen Eiszeit-Keule belohnt wurden, von der Kohl und seine Spießgesellen nur feucht zu träumen gewagt hatten?

Montag, 26. April 2010

Folgen der Privatisierung (23): Die Bahn weiter auf Geisterfahrt

Wenn Reisende auf den Bahnhöfen der Republik auf verspätete Ersatz-ICEs warten, wenn Weichenstörungen oder Oberleitungsschäden die Zugfahrt zum Abenteuer mit ungewissem Ausgang machen, wenn wir im ausgedünnten S-Bahn-Verkehr in der Hauptstadt auf der Strecke bleiben – dann ist es nicht das Wetter, das unser Recht auf Mobilität vermasselt, sondern die Frostperiode des Neoliberalismus. Das Desaster der Bahn ist das Ergebnis einer Politik, die die Bahn auf Börsenkurs bringt: nicht am Allgemeinwohl orientiert, sondern als kapitalistischer Konzern aufgestellt, im Interesse potenzieller Investoren.

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Anmerkung: Eine schöne Zusammenfassung der Entwicklung (man müsste eigentlich schreiben: Degeneration), die die "Deutsche Bundesbahn" in den letzten 20 Jahren bis hin zur anvisierten "Bahn AG" durchlaufen hat. Was das noch mit dem ursprünglichen, gesetzlichen Auftrag der Bahn zu tun hat, wird wohl nur den im kapitalistischen Filz der beteiligten Personen und "potenziellen Investoren" Verfangenen ersichtlich sein - und auch das nur bei einem gleichzeitigen Blick auf die eigenen Kontoauszüge. Es ist geradezu kafkaesk, was da immer noch veranstaltet wird. Ein Beispiel von so vielen: "Der Aufsichtsrat ist ein Lehrstück für die Art und Weise, wie die herrschende Politik sich den Kapitalinteressen unterwirft. Der Eigentümer der Deutschen Bahn AG (die Bundesrepublik Deutschland) hat mit der Neubesetzung der Mehrzahl der zehn ihr zustehenden Aufsichtsratsmandate am 24. März 2010 erneut Personen benannt (...), die in erheblichem Maß spezifische privatwirtschaftliche Interessen vertreten – auch solchen, die zu den Interessen der Bahn im Widerspruch stehen." - Da spürt man doch förmlich in Form einer grauseligen Gänsehaut, wie die neoliberale Bande sich fürsorglich um das Wohl der Bürger dieses Landes sorgt.

Folgen der Privatisierung (22): Oberärzte schlagen Alarm

Es geht um die kleinsten Patienten des privaten Universitätsklinikums in Marburg - Frühgeborene mit komplexen Fehlbildungen, krebskranke Kinder, junge Diabetiker. Für sie gibt es offenbar immer weniger Ärzte. "Wir sehen unsere Klinik als Haus der Maximalversorgung sowie als Ausbildungsstandort gefährdet", warnen acht Oberärzte in einem Brandbrief an die kaufmännische Geschäftsleitung. Die Personaldecke am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin werde immer dünner - so der Tenor des Schreibens vom 17. März, das der Frankfurter Rundschau vorliegt.

Nach der Privatisierung vor vier Jahren habe eine "massive Leistungserweiterung im Intensivbereich" stattgefunden, ist in dem Brief der Oberärzte zu lesen. Das spiegele sich aber nicht in einer größeren Personalausstattung wider. "In absehbarer Zukunft" sei die Klinik "nicht mehr in der Lage, den aktuellen hohen Standard bezüglich Patientenversorgung und Patientensicherheit unter Einhaltung arbeitsrechtlicher Vorgaben zu gewährleisten."

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Anmerkung: Das gleiche Spiel an allen Fronten - der Privatisierungswahn der neoliberalen Bande führt sich selbst unablässig ad absurdum und wird dennoch stur weiterverfolgt. Wenn man - wie am Beispiel der Kliniken deutlich wird - mit dem Leid und der Krankheit von Menschen Profit erwirtschaften will, so führt das zwangsläufig zu solchen katastrophalen Zuständen für Patienten und Beschäftigte. - Klicken Sie unten in den "Labels" mal auf das Stichwort "Privatisierung" und lesen Sie chronologisch, wieviele furchtbare Beispiele es dafür allein in diesem Blog schon gibt - und das ist noch nicht einmal die Spitze des Eisberges, allenfalls das auf dem Gipfel aufragende Gipfelkreuz. Es gibt nur eine Gruppe, die von diesen politisch massiv forcierten Entwicklungen profitiert - und das ist, wie immer in der neoliberalen Ideologie, die Gruppe der "Investoren", also die Superreichen. - Lesen Sie dazu auch das im Artikel verlinkte "Spezial" der Frankfurter Rundschau zum Rhön-Klinikum.

Massive Rentensteigerungen - natürlich nur für "Topmanager"

(...) Die Pensionsbeiträge von RWE für die Vorstände stiegen 2009 im Schnitt um 43 Prozent auf 439.000 Euro pro Kopf. Der Barwert der Pensionsverpflichtungen stieg von 7,4 auf 14,2 Millionen.

Auch der Chef von Linde und Autor des Buches "Luxus schafft Wohlstand", Wolfgang Reitzle, muss im Alter nicht darben: Linde steigerte die "Zuführung zur Pensionsrückstellung" für die vier Vorstände zuletzt von 370.000 Euro auf gut zwei Millionen. Als Grund dafür nennt der Bericht versicherungsmathematische Effekte.

Ein Durchschnittsrentner erhält gegenwärtig 724 Euro im Monat. Das deckt ungefähr die Hälfte des früheren Gehalts ab.

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Anmerkung: Ein Kommentar erübrigt sich, die Zahlen sprechen für sich - "man" sorgt für "seinesgleichen": Der Geldadel schustert sich gegenseitig die fetten Tortenstücke zu, für die übrigen Menschen (grob geschätzte 95 Prozent) müssen die Krümel und Krümelchen reichen. - Dank an die Frankfurter Rundschau für diese Veröffentlichung - auch wenn sie, wie gewohnt, ohne Widerhall oder gar Konsequenzen bleiben wird.

Dein Feind: der Sozialschmarotzer

Peter Sloterdijk möchte die Sozialsysteme abschaffen, Guido Westerwelle bewertet die Hartz-IV-Reformen als Einladung zu spätrömischer Dekadenz. Dass die Unterschichten des Müßiggangs verdächtigt werden, hat eine lange Tradition.

Der Erwerbstätige hat ein schweres Los. Er wird jeden Morgen vom Wecker geweckt und hat auf dem Weg zur Arbeit nur einen Gedanken: "Wann ist endlich Feierabend?" Er will den Tag nicht gelebt haben. Dazu die quälende Vorstellung, dass Arbeitslose sich gerade der Wollust hingeben, Kaffee, Zeitung, Radio, Philosophieren, Spielen, ein Buch, in der Sonne Liegen ... Genug! Kaum hatte Guido Westerwelle (FDP) die spätrömische Dekadenz angeprangert, legte die "Bild"-Zeitung gegen "Hartz-IV-Abzocker" los. (...)

Medien, Politiker, Schädelmesser, die ganze Versammlung politischer Ideologen lässt kein gutes Haar an Arbeitslosen. Im Prinzip geht das seit 3.000 Jahren so. In "Werke und Tage" schreibt Hesiod, der Dichter bäuerlichen Lebens: "Der ist den Göttern und Menschen verhasst, der ohne zu wirken hinlebt; gleicht er doch den faulnichtsnutzigen Drohnen."

Die Ökonomie basierte auch 700 Jahre vor Christus schon auf dem Diebstahl von Arbeitszeit. Das eitle Leben der Adligen hing davon ab, was die Geknechteten für sie pflanzten und werkten. Aristoteles merkte zynisch an, mit Bauern lasse sich gut Demokratie machen, denn "weil sie arm sind und arbeiten müssen, haben sie kaum die Muße, an Versammlungen teilzunehmen". Die Herrschaften waren also Schmarotzer, und ihr Einfall, Unterschichten des Müßiggangs zu verdächtigen, ist einfach genial.

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Anmerkung: Ein wichtiger, gut geschriebener Artikel, der wesentliche Informationen - nicht nur in Bezug auf den wieder aufkeimenden Faschismus, der diesmal insbesondere die Verlierer des kapitalistischen Systems in den Fokus nimmt - kompakt zusammenfasst und erläutert. Sehr lesenswert. Es fehlt zwar der direkte Hinweis darauf, dass die wirklichen Sozialschmarotzer - also diejenigen, die immer weniger in die Sozialkassen einzahlen und diesen Beitrag am liebsten ganz kappen würden - nicht unter den Ärmsten der Armen zu finden sind. Aber trotzdem kommt der Autor zu dem richtigen und wichtigen Schluss: "Die Demütigung der Arbeitslosen ist also ein gesellschaftliches Erziehungsmodell zur Disziplinierung aller Erwerbstätigen. Sie sollen sich täglich sagen: Da möchte ich nie hin, lieber unterwerfe ich mich allen Bedingungen. Aus diesem Grund werden ständig schlampige Arbeitslose im Fernsehen vorgeführt. Es wäre leicht, besoffene Buchhalter oder Werbetexter aufzutreiben, noch leichter Arbeitslose, die über Kunst, Literatur, Lust- und Realitätsprinzip philosophieren. Aber das würde keiner verstehen, außerdem sollen die Schaffenden glauben, dass Arbeitslosigkeit blöde macht und nicht ihre Arbeit. Diese Fiktion ist für den Hamster im Laufrad genauso wichtig wie die Bestrafung Arbeitsloser durch Geldentzug, Arbeitszwang und Pranger." Diesen Artikel bitte weiterempfehlen!

Schwarz-gelb zerstört Deutschland weiter: Ausweitung befristeter Jobs

Neues Jahr, neuer Job

Die Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Die schwarz-gelbe Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag beschlossen, diese Entwicklung weiter zu forcieren. Das Arbeitsministerium soll diese Pläne nun verwirklichen.
(...)

Nehmen wir etwa die frühere Familienministerin. Bis vor wenigen Monaten war es der Job von Ursula von der Leyen (CDU), politische Anreize für die Steigerung der Geburtenrate zu schaffen. Die in Deutschland lebenden Frauen sind ziemlich gebärfaul, auch 2009 ging die Geburtenrate zurück – auf durchschnittlich 1,35 Kinder pro Frau. Es ist nur eine Frage von Monaten, bis die angebliche demographische Katastrophe, die in wenigen Jahrzehnten unweigerlich eintreten werde, wieder zu einem großen Thema von Politik und Medien avanciert. (...)

Mittlerweile ist sie Arbeitsministerin, und auch in diesem Job muss sie eine "Katastrophe" abwenden. Die lässt sich ganz einfach zusammenfassen: In Deutschland ist die Arbeit angeblich zu teuer. Und von der Leyen macht sich an ihre Arbeit, nämlich eine im schwarz-gelben Koalitionsvertrag enthaltene Vereinbarung umzusetzen, derzufolge die Befristung von Arbeitsverträgen erleichtert werden soll. Vor zwei Wochen sickerte durch, die Ministerin lasse ein Gesetz vorbereiten, das den Kündigungsschutz aushebeln werde, schon im Mai soll es im Bundestag beschlossen werden. Für Unternehmen soll es einfacher werden, Angestellte und Arbeiter nur noch mit befristeten Verträgen einzustellen.

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Anmerkung: Da freut sich die Bevölkerung doch - die schwarz-gelbe Bande sorgt für ihre Schäflein. Leider gehört die Bevölkerung nicht dazu. - Der Schlussfolgerung im Artikel ist uneingeschränkt zuzustimmen: "Von der Leyen schickt sich an, als Arbeitsministerin das zu tun, was sie als Familienministerin verhindern wollte: Sie erhöht den Druck auf die Lohnabhängigen. Ihr Gesetz würde reguläre Arbeitsverhältnisse auf breiter Front verhindern, zerstückelte Erwerbsbiographien wären die Folge – mit erheblich negativen Auswirkungen auf die spätere Höhe der Rente. Kein Wunder, dass niemand Kinder kriegen will! Oder besser gesagt: Ihr Handeln als Arbeitsministerin entlarvt rückwirkend ihre Familienglücksrhetorik als abgeschmackte Ideologie. Kinder kriegen sollen die Leute natürlich weiterhin, oberster Maßstab dabei ist aber das Wohlergehen 'unserer' Wirtschaft." - Man mag gar nicht weiter darüber nachdenken, mit welcher Offensichtlichkeit und Impertinenz auch hier wieder die monetären Interessen der "oberen Zehntausend" bedient werden, während Millionen von Menschen sehenden Auges in Abgründe der Unsicherheit gestoßen werden sollen.