Samstag, 3. September 2016

Buchempfehlung: Wolfsspinne


Mit "Wolfsspinne" hat Horst Eckert einen packenden und hochaktuellen Politthriller vor dem Hintergrund von Flüchtlingszuwanderung und Pegida verfasst. Darin stellt er die offizielle Version zum Thema NSU infrage.

Ein Gastbeitrag des Altautonomen


Eisenach, 2011: Als zwei NSU-Mitglieder tot in ihrem Wohnmobil aufgefunden werden, deutet alles auf Selbstmord hin. Doch Ronny Vogt kennt die Wahrheit, denn er hat den "Nationalsozialistischen Untergrund" für den Thüringer Verfassungsschutz beobachtet. Und er weiß, dass er für immer über das schweigen muss, was schließlich unter dem Codenamen "Wolfsspinne" geschah. Inzwischen arbeitet Ronny als verdeckter Ermittler für das LKA im Düsseldorfer Drogenmilieu. Als Hauptkommissar Vincent Veih, ein entfernter Cousin, ihn im Rahmen einer Mordermittlung befragt, droht seine Tarnung aufzufliegen. Dann holt ihn seine Vergangenheit mit dem mörderischen NSU-Trio ein und sein Leben gerät endgültig aus den Fugen ...

Staatlich betreutes Morden

In einer fesselnden Dramaturgie zeigt dieser spannende Politthriller die haarsträubende Verquickung der rechtsterroristischen Nazibande mit den Verfassungsschutzbehörden und den Landeskriminalämtern einschließlich des Bundeskriminalamtes aus der Sicht eines Insiders der Neonaziszene sowie aus der Sicht des ermittelnden, zum Teil antirassistisch engagierten Kriminalbeamten. Wer sich fragt, ob der NSU tatsächlich nur aus den im Untergrund agierenden drei Leuten bestand oder in ein dichtes Netz aus Unterstützern, Sympathisanten und logistischem Knowhow eingebettet war, wird in diesem Roman eine recht glaubwürdige, mögliche Antwort finden. Horst Eckert entwickelt auf der Grundlage der Fakten, die aus dem NSU-Prozess und den Untersuchungsausschüssen bekannt sind, eine überzeugende Geschichte mit zwar fiktiven, aber doch sehr plausiblen Schlussfolgerungen. Wer an der Selbstmordthese im Fall von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zweifelt, dem geht es nicht anders als dem Autor: "Wie könnte ich das Ergebnis der Bundesanwaltschaft ohne Zeifel annehmen, wenn sich überall Widersprüche auftun, Spuren nicht verfolgt wurden, die Schredder heiß liefen, Zeugen nicht reden durften oder unter seltsamen Umständen starben?"

Die Geschichte beginnt im Jahre 2015 mit der grausamen Vergewaltigung und Ermordung der Besitzerin einer Edelgastronomie in Düsseldorf. Zunächst wird wie bei den sogenannten Dönermorden kein politischer Hintergrund vermutet. Über den organisierten Handel mit Crystal Meth dringen die Ermittler dann aber immer tiefer in den Sumpf rechtsterroristischer Strukturen vor.

Unter den Romanfiguren lassen sich mit etwas Fantasie leicht reale Personen der Zeitgeschichte identifizieren, wie z.B. Beate Zschäpe (NSU) und Brigitte Monhaupt (ehemals RAF).

"Wolfsspinne" ist eines der wenigen Bücher, die ich innerhalb von 24 Stunden durchgelesen habe.



(Horst Eckert [*1959]: "Wolfsspinne", Wunderlich 2016)

Freitag, 2. September 2016

FIlm des Tages: Die Weimarer Republik


1. Die schwierige Geburt


2. Der schöne Schein


3. Der Weg in den Abgrund


Anmerkung: Selbstverständlich spielt auch in dieser Dokumentation der Kapitalismus keine Rolle - die tatsächlichen Ursachen werden also auch hier, wie gewohnt, nicht benannt. Dennoch ist der Film informativ.

Donnerstag, 1. September 2016

Das esoterische Intermezzo


Es ist manchmal höchst erstaunlich, wer sich so alles im "linken Spektrum" verortet - es gibt da kaum eine Stilblüte, die es nicht zur höchsten Vollendung schaffte. Da gibt es grüne, SPD- und LinksparteisoldatInnen ebenso wie völlig durchgeknallte Schwachmaten wie den "Herrn Karl" oder irgendwelche esoterischen Jünger. Das ist alles nichts Neues und lädt allenfalls zu schlechter Laune oder massiver Heiterkeit ein - je nachdem, wie man gerade drauf ist.

Heute soll es aber um einen ganz speziellen Fall gehen, der insbesondere alte Männer betrifft. Nein, es geht diesmal nicht um die Eso-Spinner von "Jenseits der Realität", sondern um Herrn Dr. Klaus Baum. Klausis Blog Notizen aus der Unterwelt bietet oft genug kritische Gedanken und gutes Hirnfutter, allerdings vergesse ich beim Lesen leider allzu oft, dass der Mann allen Ernstes u.a. ein studierter Theologe ist und daher offenbar an die Existenz irgendwelcher unsichtbarer, höherer Wesen glaubt.

Das alles wäre, trotz allem, kein Grund für mich gewesen, mich hier darüber auszulassen, da die "Notizen" mir bisher nicht missionarisch unangenehm aufgefallen sind. Geändert hat sich das erst kürzlich, als dort - zum wiederholten Male - eine äußerst schräge Gestalt in den Kommentaren aufgetaucht ist. Jener Jens Prien, der sich selbst "Astrologe" nennt, sondert seinen Müll auch gerne bei den esoterischen Hohlbirnen von "Jenseits der Realität" ab und ist auch ansonsten recht aktiv in diversen obskuren Astro-Foren. Ein besonders widerwärtiges Beispiel, das ich gefunden habe, hat der Altautonome bei Klausi bereits gepostet (die Opfer des Attentats in Nizza seien selbst verantwortlich für ihren Tod, meint der Spinner) - ein weiteres wäre noch seine alte Website, auf der Herr Prien bis mindestens 2003 unbedarften Menschen für 45 bzw. 90 Euro monatlich einen "astrologischen Roulette-Kalender" aufschwatzen wollte, mit dem sich im Spielcasino viel Geld machen ließe.

Einem solchen windigen Ganoven bietet Klausi nicht nur Raum, sondern er verteidigt ihn gar (assistiert von mehreren Stammkommentatoren, die offensichtlich keine Ahnung haben, mit wem sie es da zu tun haben). Ich unterstelle auch dem Klausi, dass er gar nicht weiß, mit was für einer zwielichtigen Figur er da kommuniziert - ich finde es aber erschreckend genug, dass der angeblich so kritische, intelligente Mann dem astrologischen Schwachsinn, den Prien unentwegt äußert, mit den hirnschmelzenden Worten begegnet: "im hause des herrn jedoch gibt es viele wohnungen."

Da bleibt mir die Spucke weg. Ist das am Ende doch bloß ein Blog des Bundeskaspers Gauck? Und hier wird allen Ernstes über eine "linke Identität" gestritten, wenn abzockende Eso-Spinner ebenso toleriert werden wie gläubige Religioten? Wo zur Hölle sind wir, wenn nicht im Land der Gesichtspalmen?

Manchmal will ich einfach nur noch saufen, kiffen und dann endlich sterben.


Zitat des Tages: "... das Geld aus dem Fenster!"


In Cannes wohnt Herr Chanel aus den USA, und am 6. April dieses Jahres hat er zum großen Entzücken der ortseingesessenen und zugewanderten Bevölkerung eine Handvoll Tausendfranc-Scheine aus seinem Hotelfenster auf die Straße geworfen. Wie uns unser Spezialkorrespondent Theobald Tiger aus Cannes meldet, liegen die Scheine zur Zeit nicht mehr auf der Straße.

Oh, Herr Chanel ist nicht verrückt. Zunächst hat er das nicht zum erstenmal gemacht: schon einmal hat er die Cannesen mit den flatternden blassblau-rosa Schmetterlingen erfreut. Herr Chanel ist nicht verdreht – er ist nur zu reich. Er muss sehr reich sein; denn der gewöhnliche Haus-Reiche (Homo pecuniosus communis) trägt als Panzer und Aura einen leichten Wams von Geiz; fahre nie mit einem reichen Mann nach Hause, der kein Auto hat – immer wirst du das Auto bezahlen ... Herr Chanel muss so reich sein, dass es schon nicht mehr schön ist: denn als er nach Europa herüberfuhr, da verfertigte er auf dem Schiff eine lange Drachenschnur, mit hundert Tausendfranc-Scheinen daran – pro Zettel immerhin 160 Mark – und so ließ er die Schnur im Wasser hinter dem Schiff hergleiten. Dann zog er sie heraus, die Scheine waren alle noch da. "Three cheers auf die Fische –!" rief der Herr Chanel. "Die Fische machen sich wenigstens nichts aus Geld – also sind sie besser als die Menschen!" Ich halte diesen Schluss für leicht anfechtbar; vielleicht nehmen die Fische nur Dollars oder gedeckte Schecks oder nur Naturalien von der Firma Jonas u. Cie., man weiß das nicht genau. Das tollste Stück aber hat Herr Chanel in New York vollbracht.

Dortselbst zog er nach einer Wette mit einem Korb in den Straßen herum, der war bis obenhin mit Dollarscheinen gefüllt, ungefähr eine Million! Und davon bot er allen Vorübergehenden an.

"Bitte, nehmen Sie doch – aber bedienen Sie sich, meine Damen und Herren! Wer hat noch nicht seinen Dollar? Schöne, frische Dollars – hier ganz umsonst –!" Und da geschah das Wunder.

Es nahm keiner. Die Amerikaner, die zwar sonntags fleißig aus ihren Gesangbüchern singen, hatten so etwas von Nächstenliebe noch nie gesehen, dieses Erlebnis lag völlig außerhalb ihrer Vorstellungssphäre, und Herr Chanel zog mit seinem Dollarkorb unangefochten durch die brausenden Straßen New Yorks. Nur ein schlichter Arbeiter erbarmte sich seiner und langte etwas zögernd in die raschelnde Masse ... Vier Zehn-Dollar-Scheine fischte der Mann, nur vier, mehr nicht, und damit ging er schnell ab, sie sicherlich sorgsam befühlend, ob sie auch echt seien, zweifelnd und sich oft umsehend, ob er nun auch nicht von dem Narren da etwa verfolgt würde ... Aber der rief weiterhin seine Ware aus, die keiner wollte. Hier war das Glück – da waren die Leute –: sie glaubten es nicht.

Herr Chanel wird wahrscheinlich eines Tages von seinen besorgten Verwandten in ein Haus getan werden, in dem er den Kaiser der Sahara und den Erfinder der Fliegenfalle beim traulichen Poker antreffen wird ... Bis dahin aber möge er nicht fortfahren, an der göttlichen Weltordnung zu rütteln. Denn es ist etwas Ärgerliches um einen, der da sein Geld zum Fenster hinauswirft.

Ich bin zwar nicht in Cannes dabei gewesen, aber ich kann mir – über den grapschenden Händen der Zugreifenden – die ärgerlich-belustigten Gesichter der Leute schon denken. Geld aus dem Fenster zu werfen –! Gutes, richtiges Geld aus dem Fenster –!

Das haben unsere Mamas zu uns gesagt, wenn wir uns für fünfzehn Pfennig Makronen gekauft hatten (nannten Sie das auch 'knacken'? wir nannten das 'knacken') – und es war wohl mehr eine schöne Redensart, denn wer sollte Geld aus dem Fenster werfen! Nein, es war nur eine façon de parler – meine Verwandtschaft hat mir zum Beispiel immer geweissagt, ich werde noch einmal eine Kellnerin heiraten, was in meiner Jugend so ziemlich das Äußerste darstellte, das sich ein braver Mann vorstellen konnte ... Geld aus dem Fenster –!

Herr Chanel hat einer Redensart zur Wirklichkeit verholfen. Er hat uns endlich einmal gezeigt, wie so etwas tut, aber es tut nicht gut. Es ist Revolution gegen den Kosmos; wir werden das leise Gefühl einer Art Furcht nicht los – wohin soll das führen, wenn jetzt plötzlich aus den Fenstern der Babelsberger Straße und des Boulevard Malesherbes Schecks, Dollars, Francs, Hundertmarkscheine und das schönste Geld der Welt: die englischen schwarz-weißen Pfundnoten, auf uns heruntergeflattert kommen!

Dann stimmt auf einmal alles nicht mehr. Ja, gewiss: man kann sich vielerlei dafür kaufen ... Ich nichts wie hin, und los gehts: ein Ultraphon und eine englische Pfeife und gespitzte Bleistifte und etwas Liebe und die gesammelten Werke des Philosophen Keyserling (die werfe ich dann wieder aus dem Fenster) – und für Lottchen ein Auto, ein sechspferdiges, aber mit Scheinwerfern, so groß wie Eierkuchen ... man kann sich vieles dafür kaufen, das ist wahr.

Aber es ist nicht das richtige. Es bleibt ein unbehagliches Gefühl an den Schulterblättern, seelisches Juckpulver kriecht durchs Gemüt, hier stimmt etwas nicht. Es ist doch nicht recht ... "Na, mir wäre das gleich – ich nehme, was ich kriege!" Das sagen Sie so – wenn Sie es nachher haben, dann werden Sie sehen: hier ist etwas nicht in Butter.

Herr Chanel aus New York hat an der göttlichen Weltordnung gerüttelt. Denn das Geld soll man nicht zum Fenster hinauswerfen, sondern es soll da bleiben, wo es nun einmal von Gottes und Rechts wegen hingehört: da, wo es schon ist, in den Steuerkassen und bei denen, die es verdienen, ohne es zu verdienen.

Und jedesmal, wenn ich jetzt durch die Straßen von Cannes gehe, werde ich sehnsüchtig an den Häuserfronten emporsehen, mit einem langen Blick – zur Erinnerung an den Herrn Chanel.

(Peter Panter alias Kurt Tucholsky [1890-1935], in: "Vossische Zeitung" vom 15.04.1928)


Mittwoch, 31. August 2016

Song des Tages: Downfall




(Exodus: "Downfall", aus dem Album "Exhibit B: The Human Condition", 2010)

A crumbling empire
Where angels fear to tread
Into the ruins of a civilization
A society ripped to shreds
No semblance of order
Into the world which I abjure
Where the bloody blade is forged
Am I the cause of the cure?

Our destiny is soon revealed
Battle strewn, no way to heal
We spread the wings of failure
For the world's last goodnight:
Downfall!
In the flames of the burning lands
Who claims to have the upper hand?
Bonfire of the vanities and spite

Like Sodom and Gomorrah
Forsaken and alone
Look how the mighty all have fallen
We reap what we have sown
When all the marble palaces
Are blackened, sacked and burned
Will we understand man's ignorance
Through all the lessons learned?

Fall! Fall! Fall!
Downfall!

So quick to claim the credit due
Yet no-one takes the blame
Like Nero played his violin
While watching Rome in flames
Implosion of our nations through
Decisions of its kings
Downfall of our creation
It's the end of everything



Anmerkung: Es hätte wohl kein passenderer Ort für das Video zum Song gewählt werden können als ein us-amerikanischer Gerichtssaal.

Dienstag, 30. August 2016

Notstand – die letzte linke Utopie


Ein Gastbeitrag von Matthias Eberling

Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer.

(Gustave Le Bon)

Wenn wir die Sache mal zu Ende denken, kann uns doch nichts Besseres passieren als ein Notstand. Ein richtiger Notstand, die Versorgung mit Energie, Wasser und Nahrungsmittel bricht zusammen. Keiner kommt mehr zur Arbeit. Die Medien fallen komplett aus. Seien wir froh um jedes privatisierte Wasserwerk, das marode wird, weil die profitgeilen Neubesitzer keinen Cent in die Erhaltung investieren.

Was passiert, wenn das filigrane Netzwerk der Versorgung zusammenbricht? Die Armen haben nix. Sie werden verhungern. Nein, ganz im Gegenteil. Ihre große Zeit ist endlich gekommen. Sie werden um ihr Überleben kämpfen. Wenn irgendetwas den Sturm auf die Paläste auslösen wird, dann ist es ein Notstand. "Not kennt kein Gebot", wissen die kleinen Leute seit tausenden von Jahren.

Dann wird das durchtrainierte (vormals fette) Bonzenschwein aus seinem SUV gezogen, dann wird nicht mehr gebettelt, dann wird geplündert. Die leeren Supermärkte werden brennen (gut, sie werden nicht ganz leer sein, der Ständer mit dem Manager-Magazin und das Regal mit dem alkoholfreien Bier bleiben unangetastet), die Villen, die Polizeistationen, die Sportwagen.

Wir können uns nur wünschen, dass die Ordnung zusammenbricht. Es ist die letzte Chance, die wir haben. Dann sind alle Bankkonten auf null, denn Geld spielt keine Rolle mehr. Die angehäuften Millionen und Milliarden der Reichen lösen sich in blauen Dunst auf. Deswegen wird auch keine Security mehr auf diese Leute aufpassen, die Bodyguards müssen sich um ihre Familien und sich selbst kümmern.

In Merkels Führerbunker brennt die Notbeleuchtung, aber niemand hört mehr, was die lobotomierten Volksvertreter noch zu sagen haben. Das Leben findet wieder auf der Straße statt. Du weißt genau, wem du trauen kannst und wem nicht. Leuten aus den Medien oder von der Polizei kannst du nicht trauen, aber deinen Freunden, deinen Nachbarn und deiner Familie. Und dazu brauchen wir noch nicht mal eine linke Theorieverschwörung.

See You at the barricades ...

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Dieser Text wurde zuerst im Blog des Kiezschreibers veröffentlicht und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.


(Barrikade der Pariser Kommune, 1871)

Montag, 29. August 2016

Die "linke" Jugend: Das Ruder fest in der Hand


Vor einigen Tagen war bei Zeit Online wieder einer jener Texte zu lesen, die mir regelmäßig die Hutschnur platzen und den Blutdruck in bedenkliche Höhen schnellen lassen. Unter dem Titel "Ohnmacht ist genau das richtige Wort" berichtet dort eine Studentin von ihrer "linken Sozialisation", beschreibt allerlei durchaus sinnvolle und wichtige Stationen sowie Irritationen und kommt sodann zu dem hanebüchenen Schluss:

Und ich? Möchte mich nicht beklagen. Ich bin zwar eine Frau, aber ich habe Glück: Ich bin weiß und deutsch. Studentin. Ich kann mich nicht beschweren über das Leben, das ich führe. / Denn ich, die weiße, gebildete Europäerin, bin eine von denen, die das Ruder in der Hand haben. Wir haben die Kraft und die Möglichkeiten, unsere Welt besser zu machen.

Einen solchen Irrsinn, den man sich allenfalls in durchsoffenen Nächten bei den aktenkoffertragenden Jungliberalen oder an grölend-nationalistischen AfD-Stammtischen ausdenken kann, muss man als Leser erst einmal verdauen, bevor allmählich zunächst die Ernüchterung und sodann das Entsetzen einsetzen. Wenn das auch nur annähernd repräsentativ sein sollte für die "linke Jugend" in unserer kapitalistischen Höllenwelt, ist es tatsächlich an der Zeit, Adieu zu sagen.

Solange "gebildete" Menschen wie diese Dame nicht endlich wieder (!) erkennen, dass sie weder "das Ruder", noch sonst irgendetwas, das den Lauf dieses kapitalistischen Systemes maßgeblich beeinflussen könnte, in der Hand haben, kann und wird es keinerlei Verbesserungen für alle Menschen geben. Wenn das "linke Bewusstsein" schon an solch banalen Erkenntnissen scheitert, kann daraus nur genau das werden, was die Dame detailliert beschreibt: Ein hochnotpeinliches Herumdoktern an Symptomen im individuellen Einflussbereich, das - wie schon vor hundert Jahren ausführlichst beschrieben - genau nichts ändert. Und die Dame nennt diesen persönlichen Aktionismus auch noch "Kampf" - sie hat wohl lediglich vergessen, die Konkretisierung "gegen Windmühlen" hinzuzufügen.

Mit Bio-Hanseln, Gender-Aposteln, veganen PriesterInnen und ähnlichen Nebenschauplatzbewohnern (Lapuente, Sasse, Berger, Faulfuß etc.) ist selbstverständlich kein Systemwechsel möglich - der Mühsam'sche "Lampenputzer" lässt freundlich grüßen.

So etwas kommt dabei heraus, wenn ein bewusst verkrüppeltes Bildungssystem in einer bis in die Haarspitzen kapitalisierten Horrorwelt Menschen ins Leben schickt, die sich groteskerweise für "gebildet" halten. Jene Menschen sind dabei noch die letzten, denen man Vorhaltungen machen kann, denn sie wissen es schlicht nicht besser - wer das kritische Lernen und selbstständige Denken nicht beigebracht und vor allem vorgelebt bekommt, ist zunächst eher ein Opfer des Systems. Dieser jugendliche "Opferschutz" endet jedoch ab einem gewissen Alter.

Ob man tatsächlich darauf hoffen darf, dass diese schlecht ausgebildete, sich "am Ruder" wähnende neue Generation vielleicht doch irgendwann mehrheitlich erkennt, dass sie aufs Glatteis geführt wurde - bevor das Eis erneut bricht? Ich persönlich habe da arge, sehr berechtigte Zweifel.

Sozialpolitik ist der verzweifelte Entschluss, an einem Krebskranken eine Hühneraugenoperation vorzunehmen.

(Karl Kraus, in: Aphorismen, 1909)

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Die Armen und das Geld
oder: Andrang vor dem Büro der Staatslotterie



(Aquarell von Vincent van Gogh [1853-1890] aus dem Jahr 1882, Van Gogh Museum Amsterdam, Niederlande)