Samstag, 5. September 2015

Zitat des Tages: Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!




Wacht auf, – denn eure Träume sind schlecht!
Bleibt wach, – weil das Entsetzliche näher kommt.

Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt
von den Stätten, wo Blut vergossen wird,
auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf,
worin du ungern gestört wirst.
Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen,
aber sei gewiss.

"Oh, angenehmer Schlaf
auf dem Kissen mit roten Blumen,
einem Weihnachtsgeschenk von Anita,
woran sie drei Wochen gestickt hat.

Oh, angenehmer Schlaf,
wenn der Braten fett war und das Gemüse zart.
Man denkt im Einschlummern an die Wochenschau von gestern Abend:
Osterlämmer, erwachende Natur,
Eröffnung der Spielbank in Baden-Baden,
Cambridge siegte gegen Oxford mit zweieinhalb Längen –
das genügt, das Gehirn zu beschäftigen.

Oh, diese weichen Kissen, Daunen aus erster Wahl!
Auf ihnen vergisst man das Ärgerliche der Welt,
jene Nachricht zum Beispiel:
Die wegen Abtreibung Angeklagte sagte zu ihrer Verteidigung:
'Die Frau, Mutter von sieben Kindern,
kam zu mir mit einem Säugling,
für den sie keine Windeln hatte und der
in Zeitungspapier gewickelt war.'
Nun, das sind Angelegenheiten des Gerichtes, nicht unsre.
Man kann dagegen nichts tun, wenn einer etwas härter
liegt als der andere. Und was kommen mag ... -
unsere Enkel mögen es ausfechten."


Ach, du schläfst schon? Wache gut auf, mein Freund!
Schon läuft der Strom in den Umzäunungen,
und die Posten sind aufgestellt.

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid misstrauisch gegen ihre Macht,
die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen.
Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit
der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder,
die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!

(Günter Eich [1907-1972], aus dem Hörspiel "Träume", geschrieben 1950, erstmals produziert und gesendet vom NWDR 1951; gedruckt zuerst erschienen in: "15 Hörspiele", Suhrkamp 1966)



---

Anmerkung: Das gesamte Hörspiel ist auf youtube in verschiedenen Versionen kostenfrei verfügbar. Wer es nicht kennt, sollte sich etwas Zeit nehmen und es aufmerksam verfolgen. Hier beginnt beispielsweise die Originalproduktion aus dem Jahr 1951.

Freitag, 4. September 2015

Kapitalistischer Zynismus, nächstes Level


Gestern las ich bei n-tv einen kurzen Text, der mich wieder einmal ziemlich schockiert zurückgelassen hat. Dort wird unter anderem berichtet:

Der Spitzenverband der 295 deutschen Landkreise schlägt vor, den Mindestlohn für Asylbewerber vorübergehend zu senken. Die ankommenden Menschen sollen so schneller zu Lohn und Brot gelangen.

Zum einen ist es ja so, dass Asylsuchende und sogenannte "Geduldete" in den ersten drei Monaten ihres Aufenthaltes in Dunkeldeutschland ohnehin keine Ausbildung beginnen bzw. nicht arbeiten dürfen. Eine Ausnahme stellt hier lediglich die Schulpflicht für Kinder dar - wobei auch diese bereits in gewohnt asozialer Weise in Frage gestellt wird. Auch staatlich "anerkannte" Flüchtlinge müssen zunächst eine behördliche "Arbeitserlaubnis" beantragen, bevor sie sich um einen Job oder einen Ausbildungsplatz bemühen dürfen - dabei gilt für "Arbeitgeber" allerdings, dass "bevorrechtigte Arbeitnehmer" (also Deutsche und EU-Bürger) stets zu bevorzugen sind. Für Menschen, deren Asylverfahren sich in die Länge zieht oder die in diesem Land nur "geduldet" sind, endet das staatlich verordnete Arbeitsverbot erst nach ganzen 15 Monaten - erst dann dürfen auch diese Menschen eine "Arbeitserlaubnis" beantragen.

Dies als generelle Info vorweg, da sie im n-tv-Artikel vollständig fehlt. Im Text ist zunächst nur von "Asylbewerbern" die Rede, also von Menschen, die einen Asylantrag gestellt haben, über den noch nicht entschieden wurde. Später wird als Synonym plötzlich das Wort "Flüchtling" benutzt, das ja weitaus umfassender als der Begriff "Asylbewerber" ist. Ob das schlicht journalistische und/oder politische Schluderei ist oder ob hier ganz bewusst Konfusion erzeugt bzw. verstärkt werden soll, vermag ich nicht zu entscheiden.

Im Kern zielt auch dieser Vorstoß klar erkennbar darauf ab, das allgemeine Lohnniveau weiter massiv zu drücken und den ohnehin lächerlichen und längst nicht "flächendeckend" gültigen Mindestlohn noch weiter ad absurdum zu führen. Es geht hier natürlich nicht darum, einen "guten Beitrag zur Integration" von Flüchtlingen zu leisten, sondern um möglichst billige Arbeitssklaven, die sich zum Zwecke der Profitmaximierung der Unternehmen willig und umfassend ausbeuten lassen.

Das Geheul des DGB und der SPD, das im Text zitiert wird, ist indes genauso infam und verlogen wie der Vorschlag selbst - schließlich gibt es längst "Arbeitnehmer zweiter und sogar dritter Klasse", für die der Mindestlohn nicht gilt und die ständig von (teils sogar völlig entgeltlos zu leistender) Zwangsarbeit bedroht sind, nämlich die Millionen Opfer des staatlichen Hartz-Terrors, für den DGB und insbesondere SPD und Grüne hauptverantwortlich sind. Wenn DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell nun also in die Pressemikrofone plärrt, einzelne Beschäftigungsgruppen vom Mindestlohn auszunehmen und das als Beitrag zur Integration zu bezeichnen sei "reiner Zynismus", ist die zynische Kafkaeske komplett und ich kann nur noch irre schreiend und wild die Haare raufend davonrennen.

---

Das letzte Bad



(Lithografie von Honoré Daumier [1808-1879], aus der Serie "Sentiments et passions", in: "Le Charivari", 1840)

Mittwoch, 2. September 2015

Musik des Tages: Klavierkonzert a-moll




  1. Allegro affettuoso
  2. Intermezzo. Andantino grazioso
  3. Allegro vivace

(Robert Schumann [1810-1856]: "Konzert für Klavier und Orchester" a-moll, Op. 54 aus den Jahren 1841-45; Klavier: Khatia Buniatishvili, Radio-Sinfonieorchester Frankfurt, Leitung: Paavo Järvi, 2012)


Dienstag, 1. September 2015

Zitat des Tages: Nachts


Zwischen den Schornsteinen eines zerschossenen Hauses
sitzt der Mond und glotzt ins brennende Dorf
und heult.
Wie Schleier kriechen seine Tränen über die Dächer.
Manchmal kläfft ein Gewehr,
und eine Kugel frisst sich durch Holz oder Scherben -
Manchmal grölt ein Geschütz,
und dann flattern singende Fetzen umher
wie Fledermäuse,
irgendwo stürmt ein Schrei durch die Gassen.
Am Christuskreuz blinkt hell ein Schädel.

(Edlef Köppen [1893-1939], in "Die Aktion", Jahrgang 5, 1915)

---

Die Strafe



(Gemälde von Hans Baluschek [1870-1935] aus den Jahren 1915/19, Öl auf Leinwand, unbekannter Verbleib)

Montag, 31. August 2015

"Vergesst uns nicht, erzählt es weiter": Die letzten Zeugen


Als bekennender und überzeugter TV-Boykotteur habe ich aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun, die Nacht vom vergangenen Samstag auf den Sonntag dennoch vor einer Flimmerkiste verbringen müssen und bin dabei auf 3sat unfreiwilliger, zufälliger Zuschauer eines Bühnenprojektes des Burgtheaters Wien geworden, von dem ich, obwohl es bereits im Oktober 2013 erstaufgeführt wurde, bislang nichts gehört hatte. Momentan ist diese Aufzeichnung noch in der Mediathek des Senders abrufbar - wer sich das ansehen möchte (und das lege ich wahrlich jedem Menschen nahe), sollte das also tunlichst sehr bald tun, da in Kürze - wie gewohnt - die kapitalistisch motivierte Depublizierung droht.

Das Video findet Ihr zurzeit hier oder alternativ bei youtube:



Es handelt sich um ein Projekt, in dem sieben recht unterschiedlichen Zeitzeugen aus den finsteren Jahren zwischen 1933 und 1945 eine Bühne geboten wird, um ihre jeweilige persönliche Geschichte des grauenhaften Leids und glücklichen, meist zufälligen Überlebens zu dokumentieren. Dies geschieht - trotz der Anwesenheit von noch sechs dieser Personen, die zur Zeit der Aufführung noch lebten - durch Schauspieler, die jene Berichte ausschnitthaft und abwechselnd - am Redepult stehend und manches Mal um Fassung ringend - vortragen. Unterbrochen werden diese himmelschreienden, teilweise unkommentierbaren Berichte aus der tiefsten Hölle, von denen mir viele trotz meiner jahrelangen Beschäftigung mit diesem Thema bislang unbekannt waren, von Auftritten der hochbetagten Überlebenden, die mit persönlichen Botschaften ans Publikum ihre Motivation zur Teilnahme an diesem Projekt erklären.

Dies waren die härtesten und unerträglichsten 133 Minuten, an die ich mich in meiner jüngeren Vergangenheit erinnern kann. Wer sich das nicht anschaut, verpasst eine zwar tränenvolle, aber auch unermesslich erkenntnisreiche Gelegenheit, die Zeit des Nazi-Terrors zumindest in Ansätzen nachempfinden zu können und die notwendigen Rückschlüsse für unsere heutige Zeit, die auch in diesem Projekt thematisiert werden, zu ziehen. Einer der Überlebenden, Ari Rath aus Wien, sagt am Schluss der Aufzeichnung deutliche, wichtige Worte dazu (Minute 127:46):

Es hat bis 2012 gedauert, bis auch Österreichs Regierung des Bundeskanzlers Faymann den 8. Mai 1945 als "Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus" anerkannt hat. Ich bin mir schon viele Jahre der Tatsache bewusst, dass es bei den Österreichern nicht viel Reue über ihre aktive Teilnahme an den Nazi-Verbrechen gab. Obwohl zwei Drittel der österreichischen Juden noch rechtzeitig fliehen konnten und den Holocaust überlebt haben, war der Anteil der Juden, die nach Österreich zurückkehren durften, nur minimal. Es dauerte noch über 40 Jahre, bis als Folge der Waldheim-Affäre Österreich begonnen hat, sich mit seiner Nazi-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Verbrechen, die während der Nazi-Zeit begangen wurden, waren grausam und unmenschlich. Doch eines kann ich bis heute nicht begreifen: Dass man bis zum letzten Ende Juden ermordet hat, obwohl schon alles verloren war. Bei seinem Staatsbesuch in Jerusalem 1993 hat Bundeskanzler Franz Vranitzky im Gedenkbuch der Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem den folgenden Satz eingetragen: "Die Gefahr ist noch nicht gebannt - wir müssen wachsam sein." - Dieser Satz stimmt leider noch heute - mehr als je zuvor.

Schaut euch das an. Hört aufmerksam zu, auch wenn es sehr, sehr weh tut. Und glaubt insbesondere keinem Politiker, der salbungsvolle Sätze in Gedenkbücher schreibt oder in Mikrophone absondert, ohne entsprechende und unmissverständliche Taten unverzüglich folgen zu lassen - und das gilt gewiss nicht bloß für Österreich. Wenn gerade ein Überlebender des Nazi-Terrors befindet, dass die Wachsamkeit heute "mehr als je zuvor" geboten sei, spricht das angesichts der grauenhaften, beispiellosen Ereignisse, von denen in diesem außergewöhnlichen Theaterprojekt berichtet wird, mehr als nur Bände.

Faschismus, Rassismus und Menschenfeindlichkit stehen nicht mehr vor unseren Türen, sondern sitzen längst auf unseren Wohnzimmersofas und machen es sich inmitten der verrohten, ausgebeuteten, verarmten und ohnmächtigen Gesellschaft wieder gemütlich. Die nächste, wiederholte Runde des kapitalistischen Ablenkungsterrors mit den immer gleichen, nie benannten Ursachen beginnt spätestens heute.

---

Ein Zeitkind


"Lasst mich aus mit Idealismus, Ehrlichkeit und so weiter. Die jetzige Zeit verlangt Politiker."

(Zeichnung von Rudolf Grieß [1863-1949], in "Simplicissimus", Heft 49 vom 04.03.1919)