Ich frage mich ja schon seit längerem, was mit der "heutigen Jugend" los ist und weshalb gerade diese Menschen, deren Zukunft gerade wieder einmal an menschenfeindliche Konzerne verhökert oder gleich unwiederbringlich zerstört wird, größtenteils schweigen, mitlaufen und sich dem Irrsinn des ihnen aufgezwungenen Haifischbeckens fast wortlos ergeben, anstatt dem perversen System unverzüglich die rote Karte zu zeigen. Eine mögliche Erklärung ist mir bislang nicht eingefallen - bis ich kürzlich ein Interview mit dem Professor für Politikwissenschaft, Wolfgang Merkel (für den grausigen Namen kann er ja nichts), bei Zeit Online las. Dort heißt es unter der Überschrift "Junge Linke haben Bezug zur Unterschicht verloren":
Die Frage danach, wie sich gesellschaftlicher Wohlstand gerecht verteilen lässt, war ja seit jeher der Wesenskern linker Politik. Und der ist unter jungen Linken heute fast gänzlich in den Hintergrund getreten. Stattdessen dominieren kulturelle und identitätspolitische Themen, über die sich junges Linkssein heute definiert. Das zentrale progressive Anliegen ist mittlerweile die unbedingte Gleichstellung von Minderheiten. Das können ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten sein. / Gerade im Fall der Religion hat dies jedoch hochproblematische Konsequenzen: Denn die junge Linke neigt dazu – entgegen einer aufklärerischen oder marxistischen Tradition der Religionskritik – Religion unter Immunitätsschutz zu stellen und Kritik am Islam unmittelbar als "rechts" oder als "Phobie" zu brandmarken. Linke Religionskritik gerät dann in Vergessenheit, kritische Diskurse werden schlicht nicht mehr geführt – und das ist ein großes Problem.
Man darf hier freilich keinen intellektuell befriedigenden Text erwarten - es versteht sich von selbst, dass Herr Merkel, wie in unserer Systempresse üblich, völlig unkritisch von der "Globalisierung" faselt und diese - man möchte den Kopf mit Wucht auf die Tischplatte schlagen - gar als "Modernisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte" kategorisiert; und auch die Fragestellungen des Interviewers Robert Pausch lassen jede auch nur versuchte tiefergehende Analyse vermissen. Kapitalismuskritik findet nicht mehr statt in deutschen Massenmedien und hat - wie es scheint - auch in dem winzigen Teil der dort veröffentlichten Wissenschaft keinen Raum mehr.
Dennoch empfehle ich das Interview zur Lektüre, denn auch eine rein kapitalistisch gefilterte Symptombeschreibung, welche die Ursachen gewohnt konsequent außer acht lässt, ist in diesem Zusammenhang durchaus erhellend und nimmt zumindest mir partiell das böse Gefühl, mich zuweilen wie ein "ewig gestriger Opa" aufzuführen, der blindlings auf die "Jugend von heute" eindrischt. Wenn Merkel einen Klopper heraushaut wie "Die junge, intellektuelle Linke hat den Bezug zu der Unterklasse im eigenen Land fast gänzlich verloren. Da gibt es vonseiten der Gebildeten weder eine Sensibilität noch eine Aufmerksamkeit und schon gar keine Verbindungen mehr", dann fällt dem geneigten und allmählich wohl aussterbenden Eigenhirnbenutzer der Schluss nicht sonderlich schwer, dass wir es hier offensichtlich mit dem intellektuellen Armutsergebnis einer jahrzehntelangen kapitalistischen Indoktrination - sowohl in der Familie, als gerade auch in den verblödenden Verbildungseinrichtungen - seit der frühesten Kindheit zu tun haben, die nun allmählich ihre verfaulten Blüten öffnet.
Dass der Herr Professor es gewissenhaft unterlässt, den offenkundigen Bogen zu schlagen und explizit zu benennen, dass dieses niederschmetternde Urteil keineswegs nur die "junge, intellektuelle Linke" betrifft, sondern längst vollkommen selbstverständlich ist in den etablierten gesellschaftlichen und politischen Kreisen sowie weiten Teilen der zugehörigen Systemmedien inklusive der Zeit, entlastet die Jugend dennoch nicht. Ganz im Gegenteil: Gerade wer aus einem zutiefst verkommenen Umfeld stammt, steht in der Pflicht, subversiv tätig zu werden und sich - verdammt noch mal - gegen die Obrigkeit aufzulehnen. Warum zur Hölle lassen sich heutige junge Menschen so oft auf alberne Nebenschauplätze wie Genderdumpfheit, Veganismus, Sexismus oder Mohrhuhnismus locken, wo ihr Widerstand meist völlig wirkungslos verpufft oder sogar systemstärkend wirkt? Die tatsächlich Verantwortlichen für all diese - teilweise zu Recht kritisierten - Nebensymptome halten sich dort gewiss nicht auf und saufen unterdessen weiter lachend Champagner.
Auch die inzwischen völlig obsolete Religionskritik ist ein solcher Punkt, den ich - auf Teufel komm raus - nicht nachvollziehen kann. Es versteht sich doch von selbst, dass eine ernsthafte Kritik nichts zu tun hat mit der dumpfen, rassistischen Nazi-Propaganda der Pegidioten und NPD/AfD-Fraktion. Ich habe sehr oft das Gefühl, dass jedwede Aufklärung vergangener Jahrhunderte völlig vergeblich gewesen ist, wenn der absurde, magische Aberglaube an irgendwelche "Gottheiten" heute kein Thema in "jungen, linken" Kreisen mehr ist. Religionskritik ist kein Rassismus - sie kann lediglich, wie nahezu jedes andere Thema ebenfalls, von interessierter Seite schamlos instrumentalisiert und verballhornt werden. Wenn das geschieht, wird die substanzielle Kritik aber nicht gegenstandslos. Es kommt wahrlich nicht oft vor, dass ich einen Schwurbeltext von Lapuente einigermaßen lesenswert finde, aber kürzlich hat er dazu etwas halbwegs Intelligentes geschrieben. Noch wesentlich prägnanter und vollkommen ohne dummes Geschwurbel auskommend sind indes die Worte Heinrich Heines:
Kampf der Philosophen gegen die Religion: [sie] zerstören die heidnische, aber eine neue, die christliche, steigt hervor, auch diese ist bald abgefertigt, doch es kommt gewiss eine neue, und die Philosophen werden wieder eine neue Arbeit bekommen, jedoch wieder vergeblich: die Welt ist ein großer Viehstall, der nicht so leicht wie der des Augias gereinigt werden kann, weil, während gefegt wird, die Ochsen drinbleiben und immer neuen Mist anhäufen. - (Heinrich Heine: "Aphorismen und Fragmente")
Ich erinnere mich noch gut, dass ich als Kind mal - zwischengeparkt bei der Omma in Gelsenkirchen, die die glorreiche Zeit des braunen Terrors noch hautnah miterleben musste - eine mir heute nicht mehr bekannte Verfehlung begangen hatte und daraufhin von der alten Dame mit dem Teppichklopfer verprügelt wurde, dass mir der Hintern glühte. Es verursacht mir einen unbändigen Brechreiz, dass ich mich heute in derselben Rolle sehe und die ahnungs- und kritiklosen Idioten ebenso bearbeiten möchte, die heute die Schulen und rudimentären Reste dessen, was einst "freie" Universitäten waren, bevölkern. - Sicher, dieses Resümee ist überspitzt, böse, nicht nur politisch inkorrekt und zudem übel generalisierend - gänzlich falsch ist es aber dennoch nicht. - Oder?
(Omma und Charlie: der Teppichklopfer fehlt auf dem Bild.)