Der Kollege vom Blog Fliegende Bretter, dessen Texte ich ansonsten zuweilen sehr schätze, hat unter dem Titel "Es ist Sommer, zieht euch was über!" einen Rant veröffentlicht, der exemplarisch und leider eindrucksvoll belegt, wohin die kapitalistische, stets wertend-einteilende Konditionierung der beherrschten Menschen letzlich führen muss, wenn man ihr so unkritisch erliegt, wie es dem Autor - ebenso wie einem wahrscheinlich recht großen Teil unserer lieben Mitmenschen - in diesem Beispiel offenbar ergangen ist. Lest den Text selbst.
Ich finde, der Autor begibt sich mit diesem Text nicht nur auf verdammt dünnes Eis, sondern ist bereits heillos eingebrochen und kommt aus dieser üblen Nummer kaum mehr heraus.
Wieso sollte irgendjemand seinem Empfinden bzw. seinen Kategorien, was "schön" oder "präsentabel" sei, wohl folgen? Allein die Vorstellung ist doch schon so hanebüchen, dass sie sich von selbst verbietet. Wenn jemandem ein Anblick - aus welchen Gründen auch immer - nicht gefällt, dann schaue man halt weg! Anderen gefällt's womöglich, aber auch das ist letztlich nicht wichtig, denn auf sein Aussehen hat ein Mensch nunmal weitestgehend keinen Einfluss, auch wenn die kapitalistische Doktrin uns das immer wieder vorgaukeln will, was im heutigen - und übrigens bereits sehr alten - Irrsinn der Modewelt, der "Schönheitschirugie" und ähnlichem Quatsch seinen widerwärtigen Ausdruck findet.
"Schönheitsideale" im Allgemeinen und "Modelfiguren" im Besonderen sind nichts weiter als dämlicher, temporärer und willkürlich austauschbarer Bullshit. Ich finde es erschreckend, dass der Autor auf diesen lächerlichen Zug aufspringt und sich allen Ernstes über das Aussehen bestimmter Menschen echauffiert und es somit als "weniger wertvoll" als das anderer Menschen klassifiziert. Wo ist da genau der Unterschied zu einer wertenden Einteilung von Menschen beispielsweise nach ihrer Hautfarbe, ihrer Haarfarbe, Größe oder auch Nasenform?
Noch erschreckender finde ich allerdings, dass in diesem Text ausgerechnet die erzkonservativen Heuchler der Religioten zum "korrigierenden" Maßstab genommen werden, die bekanntlich ausnahmslos von allen Menschen verlangen, sich "züchtig zu bedecken". Katholizismus und Islam geben sich in diesem Fall übrigens gar nicht viel - je nach regionaler Ausprägung des religiösen Wahns.
Man mag es vielleicht kaum glauben, aber auch Menschen, die nicht dem eigenen subjektiven "Schönheitsideal" entsprechen, können von anderen als "schön" empfunden werden und sich sogar selbst, sofern sie charakterstark genug sind und sich nicht zu sehr manipulieren lassen, exakt so mögen, wie sie nun einmal sind. Auch so etwas wie Erotik und sexueller Spaß soll - so habe ich es mal raunen gehört - in Kreisen außerhalb der Modebranche und sogar jenseits der Jugend vorkommen.
Aber mal im Ernst: Meint der Autor das tatsächlich so, wie es da steht? Dicke, Alte, Kranke, körperlich Versehrte, Behinderte und sowieso alle, die seinem wohlgefälligen Auge nicht in den sexuell arg getrübten Blick passen, sollen sich gefälligst verhüllen, um seiner merkwürdigen Vorstellung von "Ästhetik" keine Gewalt anzutun? Ja, geht's noch? Ich bin völlig fassungslos und hätte ihm eine derartige dumpfe Blamage wirklich nicht zugetraut.
Mensch, die unübliche Hitze dieser Tage lässt wohl so manches Hirn unfreiwillig kochen. Dazu nur ein kurzer Dialog, der selbstverständlich in einen viel größeren Kontext, den ich hier aber nicht ausbreiten will, gehört, mit meiner jüngsten, körperbehinderten Tochter, nachdem sie einmal abends nach der Schule wieder zuhause angekommen war:
J. (eher erbost als traurig): "Boah, der XY hat mich heute schon wieder 'Krüppel' genannt!"
Ich: "Weißt du noch, was wir besprochen haben?"
J.: "Na klar! Ich hab' ihm gesagt, dass seine geistige Verkrüppelung viel schlimmer ist."
Ich: "Und, was hat er erwidert?"
J.: "Nix. Ich glaub', er hat das gar nicht verstanden." (Daraufhin lachte sie mich kurz strahlend an und befasste sich wieder mit wichtigeren Dingen.)
P.S.: Es ist kein gutes Zeichen, dass ein anderer kritischer, keineswegs beleidigender oder sonstwie unpassender Kommentar drüben beim Kollegen inzwischen wortlos gelöscht wurde.
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Schönheit, dich will ich preisen
(Aquarell von George Grosz [1893-1959] aus dem Jahr 1920, in: "Ecce Homo", Malik 1923)