Samstag, 2. April 2011

Gysi zum Thema Atomkraft

Hartz IV: Die gewollte Explosion der prekären Beschäftigung

(...) Die Genese dieser Gesetzgebung steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Schaffung eines Niedriglohnsektors und der gleichzeitigen Abschaffung jeglichen Statusschutzes für Arbeitnehmer in Deutschland, den bis dahin vor allem die Arbeitslosenhilfe und das System der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten bewirkten. Ziel war die Senkung des Lohnniveaus, auch aus währungspolitischem Interesse nach der Euro-Einführung, was jetzt nach der Griechenlandkrise mit allen Folgen offensichtlich wird. Mit Hartz I wurde zuerst die Leiharbeit entfesselt, der man mit Hartz IV dann die Arbeitskräfte gefügig machte. (...) Nur: Was man jetzt als Arbeitsmarkterfolg feiert, ist genau betrachtet die Explosion der prekären Beschäftigung, deren langfristige Folgen verheerend sein werden. Um zum Beispiel eine Rente in Höhe des Grundsicherungsniveaus von 700 Euro zu erhalten, muss man 40 Jahre Vollzeit zu einem Stundenlohn von 11 Euro arbeiten - das werden immer weniger schaffen. Wie soll man dann noch junge Leute motivieren, sich auf den Hosenboden zu setzen und zu büffeln, wenn sie an ihren eigenen gut ausgebildeten, ihr Leben lang hart arbeitenden Eltern sehen können, dass man am Ende dennoch ganz unten landet?! Dass die Perspektive massenhafter Altersarmut zudem der sicherste Weg zur Abschaffung der Demokratie ist, kann man an den Fingern einer Hand abzählen.

(Weiterlesen)

Anmerkung: Man darf nicht müde werden, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die gewollte Verarmung und soziale Verunsicherung eines erheblichen Teils der Bevölkerung von der rot-grünen Schröder-Fischer-Regierung mit tatkräftiger Unterstützung von CDU und FDP ganz bewusst herbeigeführt worden ist und keineswegs ein "unvorhersehbarer Effekt" war. SPD, Grüne, CDU und FDP wollten diese Explosion, die Niedriglöhne, die Leiharbeit, die Verarmung und soziale Destabilisierung von Millionen von Menschen, und bis heute hat sich an dieser Haltung bei allen vier Parteien nichts verändert.

Das hat selbstverständlich auch verheerende Auswirkungen auf diejenigen Bevölkerungsanteile, die noch zu den "Besserverdienenden" gehören - umso unverständlicher ist es, dass es nach wie vor so viele Menschen gibt, die diesen Gesellen bei Wahlen ihre Stimme geben. Einmal mehr sind die Worte Reinhard Meys bitterlich treffend, der in seinem Lied "Das Narrenschiff" singt:

"Sie zieh'n wie Lemminge in willenlosen Horden.
Es ist, als hätten alle den Verstand verlor'n,
Sich zum Niedergang und zum Verfall verschwor'n,
Und ein Irrlicht ist ihr Leuchtfeuer geworden."

Wann endlich hat es sich in Deutschland herumgesprochen, dass weder die SPD, noch die Grünen - von der CDU und FDP ganz zu schweigen - das Wohl der Bevölkerung im Sinn haben? SIe beweisen es Jahr für Jahr wieder aufs Neue, und dennoch torkeln bei jeder Wahl tausende von Menschen in die Wahllokale und kreuzen genau diese Bande an - oder bleiben gleich ganz zuhause und wählen gar nicht mehr, was im Ergebnis einem Kreuz bei diesen üblen Gestalten gleichkommt.

Dem Sozialrichter Borchert muss also in einem Punkt widersprochen werden: Die Demokratie ist de facto abgeschafft in diesem Land. Den Menschen wird bloß suggeriert, eine Wahl zu haben. In Wahrheit besteht lediglich die Wahl zwischen dem großen neoliberalen Einheitsbrei auf der einen Seite, dem die Interessen der Bevölkerung am Allerwertesten vorbeigehen und der im Enddarm der Reichen feststeckt wie ein brauner Korken, und der Linken auf der anderen Seite, die zumindest noch nicht umfassend bewiesen hat, dass sie ebenso korrupt und verkommen ist wie CDU, FDP, SPD und Grüne. Die Gefahren der rechten Splitterparteien lauern obendrein noch zusätzlich. Was nur soll aus einer solchen grotesken Konstellation erwachsen, das auch nur den Anschein des Demokratischen wahrt?

Wieder einmal muss man konstatieren: Wir leben längst in einer Postdemokratie - was nichts anderes bedeutet als eine hübsch mit scheindemokratischen Papierblümchen dekorierte Diktatur des Kapitals. Hat man das erst einmal verstanden, erklärt sich die Agenda-Politik der vergangenen Jahre fast von selbst - denn jeder Mensch in diesem Land, der in einiger Sicherheit und noch in einem bescheidenen Wohlstand lebt, ist ein Wachstumshemmnis für die Konten der Superreichen.

Und das politische Affentheater geht weiter.

Mittwoch, 30. März 2011

Der Spiegel vor 25 Jahren - eine Zeitreise in die Gegenwart

Georg Schramm in Stuttgart - und Stéphane Hessel im Interview



Die mediale Realität des Sozialstaates - eine Farce

Das Handelsblatt bringt heute einen Auszug aus dem neuen Buch von Gabor Steingart. These: Deutschland wird immer sozialer und kann sich seinen Wohlfahrtsstaat schon bald nicht mehr leisten.

(Weiterlesen)

Anmerkung: Man kommt aus dem fassungslosen Staunen nicht mehr heraus: Der eine (Steingart) behauptet, Deutschland werde "immer sozialer", der andere (Schieritz) widerspricht und behauptet, es sei alles in bester Ordnung, da man "vor der Krise, also im Jahr 2007, (...) in etwa auf dem Niveau von 1975" gewesen sei.

Dass die erste Aussage eine Farce ist, dürfte jedem sofort wie ein Balken schmerzhaft ins Auge stechen, der sich auch nur rudimentär mit der zunehmenden Armut und Verarmung in Deutschland, den Hartz-Gesetzen, den Renten-Deformierungen etc. auseinandergesetzt hat. Doch auch die "Richtigstellung" ist der blanke Hohn für jedes halbwegs funktionierende Gehirn: Man male sich nur einmal aus, jemand argumentierte heute bezüglich der Unternehmensgewinne ähnlich: "Was wollen Sie eigentlich - die Rendite des Konzerns XY war doch 2007 (gemessen am BIP) genauso hoch wie im Jahr 1975!" - In den Schlipsträgerkreisen würde man einen so Argumentierenden unter lautestem Gelächter aus dem Saal werfen, bevor man sich wieder leidenschaftlich der Ausbeutung der Menschen und der weiteren Zerstörung des Sozialstaates widmet.

So ist das mit dem Sozialstaat in neoliberalen Zeiten: Er wird nicht nur einfach zerstört, sondern man behauptet einfach dreist das Gegenteil oder relativiert die sicht- und fühlbare Zerstörung in hochalberner Weise.

Wenn wenigstens die Medien in Bezug auf Unabhängigkeit, Kritikfähigkeit und Ehrlichkeit auf dem Level von 1975 wären, wären wir schon einen großen Schritt weiter - die Tendenz geht aber auch hier leider seit dieser Zeit in die entgegengesetzte Richtung.

Mich erinnert das in dramatischer Weise wieder einmal an Orwells "1984" und das dort beschriebene "Doppeldenk": "Doppeldenk bedeutet, an zwei sich gegenseitig widersprechende Ansichten zu glauben. Darauf fußt die gesamte Propagandamaschine der Inneren Partei. Wenn Ozeanien heute Krieg mit Ostasien führt, dann hat es schon immer Krieg gegen Ostasien geführt. Wenn sich jemand zu erinnern glaubt, das noch gestern Ostasien der Verbündete in einem Krieg gegen Eurasien war, dann ist das falsch und jedes Nachdenken über diesen Widerspruch wäre ein Gedankenverbrechen. Winston Smith hat von Berufs wegen mit solchen Widersprüchen zu tun. Er muss die Geschichte korrigieren. Daher fällt es ihm auch immer schwerer, Doppeldenk zu betreiben. Die Schokoladenration wird [offiziell] auf 25 Gramm heraufgesetzt. Aber Winston weiß, dass die Schokoladenration vorher 30 Gramm betragen hat. Doppeldenk verlangt von ihm, überzeugt zu sein, dass die Schokoladenration nicht herab-, sondern heraufgesetzt wird." (Quelle)