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I
Auf lauten Linien fallen fette Bahnen
Vorbei an Häusern, die wie Särge sind.
An Ecken kauern Karren mit Bananen.
Nur wenig Mist erfreut ein hartes Kind.
Die Menschenbiester gleiten ganz verloren
Im Bild der Straße, elend grau und grell.
Arbeiter fließen von verkommnen Toren.
Ein müder Mensch geht still in ein Rondell.
Ein Leichenwagen kriecht, voran zwei Rappen,
Weich wie ein Wurm und schwach die Straße hin.
Und über allem hängt ein alter Lappen –
Der Himmel ... heidenhaft und ohne Sinn.
II
Ein kleines Mädchen hockt mit einem kleinen Bruder
Bei einer umgestürzten Wassertonne.
In Fetzen, fressend liegt ein Menschenluder
Wie ein Zigarrenstummel auf der gelben Sonne.
Zwei dünne Ziegen stehn in weiten grünen Räumen
An Pflöcken, deren Strick sich manchmal straffte.
Unsichtbar hinter ungeheuren Bäumen
Unglaublich friedlich naht das große Grauenhafte.
(Alfred Lichtenstein [1889-1914], in: "Dichtungen", Arche 1989; Erstdruck Teil I in: "Die Aktion", Nr. 7, 1912; Teil II in: Ebd., Nr. 32, 1912)
Nun ist die alte These, die eigentlich längst eine Gewissheit ist, auch wissenschaftlich "bewiesen": "Sozial schwach" sind vornehmlich reiche Menschen bzw. solche, die sich der "Oberschicht" zugehörig fühlen. Das jedenfalls meldete vor kurzem spektrum.de:
Wer weniger Geld hat, ist bewusster im Umgang mit den Mitmenschen.
Wer hätte denn das auch ahnen können, nicht wahr. Wir dürfen also getrost festhalten und nun auch wissenschaftlich belegt konstatieren: Reiche sind öfter asozial, Arme hingegen öfter "sozial stark". Wie um Himmels Willen soll man das nun unseren (oft asozialen) "Eliten" und ihren (ebenfalls oft asozialen) Schergen in der Politik und den Medien nahebringen? Deren Narrativ beschwört ja semi-religiös das genaue Gegenteil. Es ist wie im Tollhaus.
Mich erinnert das an die kleine Anekdote, die ich vor einigen Monaten erlebt habe: Vor dem Supermarkt, in dem ich meine Lebensmittel einkaufen wollte, stand eine ältere Dame und bot eine Straßenzeitung an. Ich kramte derweil in meiner Tasche und bemerkte, dass ich den dämlichen Chip für den Einkaufswagen zuhause vergessen hatte – eine Euro-Münze hatte ich ersatzweise ebenfalls nicht parat. Ich fragte also einige Passanten, ob sie Geld wechseln können, hatte aber keinen Erfolg. Daraufhin gab mir jene Dame, die das mitbekommen hatte, ungefragt eine solche Münze und sagte nur lächelnd: "Hier, nehmen Sie."
Ich war so verdutzt, dass ich nur verwirrt lächelnd "Danke" sagen konnte und meinen Einkauf sodann startete. Während ich durch den Laden schlich, rotierte es aber in meinem Schädel und ich begriff endlich, was da gerade geschehen war. Ich beschloss also, die Dame ebenso zu überraschen und freute mich schon – als ich aus dem Laden wieder heraustrat, war sie aber leider nicht mehr dort, denn es regnete inzwischen in Strömen. Das war sehr beschämend und hat mich noch lange beschäftigt. Ich habe die Frau leider nie wieder gesehen.
Die Frage nagt noch heute an mir: Wieso habe ich der Dame eigentlich nicht vorher schon etwas Geld gegeben? Ich gehe doch sonst auch nicht an Bettlern oder anderen offensichtlich Bedürftigen vorbei, ohne zumindest ein paar Münzen, die ich irgendwie entbehren kann, abzugeben. Wie gesagt, ich schäme mich noch heute dafür. – Gleichzeitig erinnere ich mich an den schnell durch die Straßen hechelnden Schlips-Borg, der mir vor einiger Zeit mal ins Gesicht rotzte, nachdem ich einem Bettler ein belegtes Brötchen in der Bäckerei, vor der er saß, gekauft hatte: "Wenn Sie diesem Penner etwas geben, sitzt der morgen wieder hier! Denken Sie doch mal nach!" Dann ging er hektischen Schrittes weiter.
Es ist – wie schon erwähnt – wie im Tollhaus. Und die Irren, die Psychopathen, die Asozialen haben das Sagen.
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Rationalisierung
"Seht ihr, Kinder, früher hat mein Vater noch tausend deutsche Arbeiter gebraucht, um sich ein Kapital zu schaffen, und heute braucht er nur noch eine einzige Schweizer Bank, um keine Arbeiter mehr zu brauchen."
(Zeichnung von Eduard Thöny [1866-1955], in "Simplicissimus", Heft 19 vom 04.08.1930)