Samstag, 22. April 2017

Zitat des Tages: Die Brücke


Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. – So lag ich und wartete; ich musste warten. Ohne einzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören, Brücke zu sein.

Einmal gegen Abend war es – war es der erste, war es der tausendste, ich weiß nicht –, meine Gedanken gingen immer in einem Wirrwarr und immer in der Runde. Gegen Abend im Sommer, dunkler rauschte der Bach, da hörte ich einen Mannesschritt! Zu mir, zu mir. – Strecke dich, Brücke, setze dich in Stand, geländerloser Balken, halte den dir Anvertrauten. Die Unsicherheit seines Schrittes gleiche unmerklich aus, schwankt er aber, dann gib dich zu erkennen und wie ein Berggott schleudere ihn ans Land.

Er kam, mit der Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine Rockschöße und ordnete sie auf mir. In mein buschiges Haar fuhr er mit der Spitze und ließ sie, wahrscheinlich wild umherblickend, lange drin liegen. Dann aber – gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal – sprang er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. Wer war es? Ein Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter? Und ich drehte mich um, ihn zu sehen. – Brücke dreht sich um! Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte, und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich immer so friedlich aus dem rasenden Wasser angestarrt hatten.

(Franz Kafka [1883-1924]: "Die Brücke", Erzählung aus dem Nachlass, u.a. in: "Erzählungen", hg.v. Michael Müller, Reclam 1996)


Freitag, 21. April 2017

Song des Tages: Magic Forest




(Amberian Dawn: "Magic Forest", aus dem gleichnamigen Album, 2014)

Just moments before the dawn
It's their time to go
One look and they entered the magic forest
They're left alone

A strange weight surrounded them
It felt like burned ice
All branches, like fingers they reach to catch them
Leaving their marks

"Hey you little songbirds
Come here little songbirds
We see you little songbirds
And we'll keep you"

Run for your life – she's getting closer
Run for your life – you hear her breathing
Run for your life – her army's marching
Run for your life – you feel her seeking
Reaching you, hunting you, hunting all of you

They ran deeper into the woods
They wished they could fly
In the moonlight they saw those lurking soldiers
Creeping by

Her hunters were whispering
And humming an old tune
Like rolling they passed those little seekers
Leaving them alone

"Hey you little songbirds
Come here little songbirds
Where are you little songbirds
Come we'll keep you"

Run for your life ...

"Oh dear children
Who has brought you here?
Do come in and stay with me
No harm shall happen to you!"

Run for your life ...


Mittwoch, 19. April 2017

Randnotiz zu "Fernsehkritik-TV"


Holger Kreymeier von "fernsehkritik.tv" hat beschlossen, sich nunmehr gänzlich hinter einer "Paywall" zu verschanzen, damit er von zahlungsunwilligen oder -unfähigen BesucherInnen künftig verschont bleibt. Ich muss seine (inzwischen ersetzte) Seite daher aus meiner Blogliste entfernen, denn Reklame für kostenpflichtige Inhalte ist hier nicht erwünscht.

Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass ausgerechnet Kreymeier nun dem Beispiel der "Premium"-Anbieter im Netz folgt und sich damit gleichsam überflüssig macht. Es ist anzunehmen, dass sein Geschäftsinteresse den verschiedenen, nur gegen Bares abrufbaren Formaten seiner Firma "Massengeschmack" gilt, zumal er laut eigener Aussage aus der "Jubiläumsfolge" ohnehin keine Lust mehr auf das Magazin und die damit verbundene Arbeit hat. Gibt es wohl ein noch gruseligeres Beispiel für die illustre Verwerflichkeit des Kapitalismus? Mir fällt ad hoc keines ein.

Requiescat in pace, "fernsehkritik.tv".


Die schöne, bunte Horrorwelt des Kapitalismus


Die Journaille hat mich jüngst wieder einmal überrascht. Da wurde doch tatsächlich aufgedeckt, dass Konzerne rein profitorientiert handeln und zudem alles dafür tun, möglichst geringe oder gar keine Steuern zu zahlen. Nein, welch eine Offenbarung! Ich habe Stunden – ach was, Tage! – gebraucht, um diese unfassbare, zuvor nie gehörte Erkenntnis zu verdauen. Wie kann es denn bloß sein, dass Konzerne kein Interesse am "Gemeinwohl" haben?

Aber der Reihe nach. Bei n-tv hat der investigative Qualitätsjournalist Hannes Vogel vor einigen Tagen einen Beitrag veröffentlicht, in dem es heißt:

Die 50 größten US-Unternehmen verschieben jährlich mehr als 1,5 Billionen [Euro] in Steueroasen – ganz legal. Und Konzernen wie Netflix, Facebook und General Electric schenkt der Fiskus sogar noch Geld.

"Ei der daus!" dachte ich beim Lesen unwillkürlich und kratzte mir hilflos den Schädel. Dürfen die das denn? Und wieso tun die das bloß – schließlich soll es doch allen Menschen halbwegs gut gehen auf dieser wunderschönen Erde! Das sagt doch sogar die Kanzlerin?!? Herr Vogel klärte mich aber auf, indem er feststellte: "Die Steuertricks sind völlig legal: Gesetzeslücken ermöglichten es den Konzernen, sich um ihren fairen Beitrag zum Gemeinwohl zu drücken". – Ah, dann ist es also nur ein politisches, gesetzgeberisches Versehen, das – quasi absichtslos – diese unerwünschten Auswirkungen hat! Ich verstehe.

Da haben die PolitikerInnen allerorten aber mal so richtig geschlampt, indem sie den Konzernen versehentlich solche "Schlupflöcher" angeboten haben; und die Konzerne konnten ja gar nicht anders, als unversehens hindurchzuhuschen und die Geldsäcke in Sicherheit zu bringen. Ich bin gut informiert.

Setzen wir den Aluhut der Propagandapresse nun ab

Dieser Artikel ist ein beredtes Beispiel für das infantile, ausnehmend schrille Weltbild, das Propagandamedien wild verbreiten (sollen, möchten oder müssen). Die verharmlosend als "Steuertricks" bezeichneten Praktiken sind nichts anderes als mafiöse Handlungen; die ebenso hirnentkernt als "Steueroasen" bezeichneten schwarzen Geldspeicher, die sich jedem staatlichen Zugriff entziehen, sind nicht "versehentlich", sondern ganz bewusst und gewollt geschaffen worden und bleiben ebenso bewusst und gewollt weiterhin bestehen; und das "Gemeinwohl" interessiert im Kapitalismus ohnehin niemanden, der sich auch nur zu den Schuhputzern der "Elite" zählt wie beispielsweise ein Martin Schulz (SPD).

Des weiteren betrifft diese kriminelle Struktur keineswegs nur US-Konzerne, wie es im Titel und Teaser des verlinkten Beitrages behauptet wird. Der Autor erwähnt das beiläufig im Text, indem er einen "Oxfam-Experten" [sic!] zitiert: "Bei internationalen Konzernen ist Steuervermeidung mittlerweile Volkssport." – Ja, wie sollte es denn auch anders sein in diesem System, in dem es einzig um Profitmaximierung geht? Der "faire Beitrag zum Gemeinwohl" ist Konzernen selbstverständlich so wichtig wie ein Furunkel am Anus. Das darf oder will die Propagandapresse natürlich nicht so schreiben, weshalb sie in schöner Regelmäßigkeit das Kindergartenmärchen von den "Schlupflöchern" erzählt, das selbstverständlich nur die "schwarzen Schafe" benutzen. Dass es sich dabei vielmehr um einen logischen, systemischen Akt der kapitalistischen Habgier handelt, wird nicht einmal angedacht.

Ich fasse das mal zusammen:

  1. Hortungseinrichtungen für Hehler ("Steueroasen") gibt es – auch mitten in Europa – nicht zufällig oder versehentlich.
  2. Ebensowenig ist es auf politisches Versagen oder Unvermögen zurückzuführen, dass diese mafiösen Strukturen auch weiterhin bestehen bleiben.
  3. Konzerne haben kein Interesse am "Gemeinwohl" oder gar an Menschen, sondern einzig am Profit.
  4. Das kapitalistische System erfordert die oben genannten kriminellen Strukturen zwingend, um nicht frühzeitig zu kollabieren.
  5. Habgier ist das heilige, unumstößliche Credo der kapitalistischen Religion.
  6. Die Systempresse dient der religiösen Kapitalpropaganda sehr devot, selbst wenn sie sich gelegentlich "investigativ" gibt.
  7. Die schwarz-rot-grün-gelb-blaue neoliberale Einheitspartei (NED) ist ein korrupter Haufen von meist schlips- oder knopfleistentragenden Arschlöchern, wie sie wohl nur der Kapitalismus hervorbringt. Man darf solchen GesellInnen nicht einmal einen gebrauchten Toaster für drei Euro abkaufen, weil der vermutlich defekt ist.
  8. Die Verarmung, Ausbeutung und Verelendung breiter Bevölkerungsteile ist ebenso ein essenzieller Teil der kapitalistischen Agenda wie die absurde Mästung einiger weniger Superreicher. Ohne bittere Armut kann es keinen Superreichtum geben.

Es wird mir stets ein bizarres Rätsel bleiben, weshalb eine Mehrheit der Geknechteten, Ausgebeuteten, Verfolgten, Verarmten, Kontrollierten und Aussortierten dennoch weiterhin an diesem abgrundtief perversen System festhält, anstatt endlich, endlich aufzubegehren und die Arschlöcher – gerne auch geteert und gefedert – in Schimpf und Schande vom Platz zu jagen, ohne dabei in nationalistisches Gebrüll zu verfallen.

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A Box of my Tears


(www.moonbeard.com)

Montag, 17. April 2017

Feudale Strukturen und ihre propagandistische Aufbereitung in den Medien


Dem WDR ist wieder einmal ein besonderes Stück klassischer Propaganda und Desinformation gelungen. Unter dem Titel "Wem gehören Wald und Land in NRW?" referiert die Autorin Anja Booth, die auch für die drüben verlinkte gleichnamige "Dokumentation" verantwortlich zeichnet, über feudale Strukturen in Sachen Landbesitz, ohne diese jedoch klar zu benennen oder gar zu kritisieren. Einem Hofberichterstatter steht Königskritik freilich nicht zu. Ein kleiner Auszug:

Nordrhein-Westfalen ist das Privatwaldland! 64,8 Prozent Wald sind in privatem Eigentum. Kein anderes Bundesland hat mehr Wald in privater Hand. (...) / Die Familie Sayn-Wittgenstein auf Schloss Berleburg ist mit über 13 Hektar Wald der größte Privatwaldbesitzer Nordrhein-Westfalens. Seit über achthundert Jahren ist der Wald im Besitz der Familie und gleichzeitig die Haupteinnahmequelle der Sayn-Wittgensteins. Wald ist wertvoll: Pro gefällter Fichte bekommt die Familie etwa 160 bis 170 Euro.

In diesem Stil geht das munter weiter – selbstverständlich wird nirgends auch nur zaghaft die Frage angedeutet, wie dieses gruselige Adelsgeschmeiß vor über achthundert Jahren in den "Besitz" dieser Landflächen gekommen ist und weshalb um Himmels Willen jenes Land dem Erbenpack heute noch immer "gehört". Solche eliteschädigenden Fragen verwirrten einen WDR-Leser, wie die Obrigkeit ihn sich wünscht, wohl nur, weshalb sie im öffentlich-rechtlichen Weltbild gar nicht erst vorkommen.

Davon abgesehen ist der Text derartig schlecht geschrieben, dass mir beim Lesen die Augäpfel aus dem Schädel gefallen sind und ich mein Gehirn nur mithilfe einiger Papiertaschentücher, die ich hastig in die entstandenen Öffnungen stopfte, daran hindern konnte, auf die Tastatur zu tropfen. So erfährt der wissbegierige WDR-Konsument beispielsweise, dass es "Naturwaldzellen" gibt, "in denen man beobachten kann, was passiert, wenn man den Wald sich selbst überlässt." Im nächsten Satz steht allerdings: "Naturwaldzellen darf man nicht betreten." – Aha. Wer ist denn hier "man" und wer beobachtet diese "Zellen", wenn "man" sie doch gar nicht betreten darf? Der gemeine Pöbel ist wohl lediglich mit dem zweiten "man" gemeint.

Des weiteren habe ich durch diesen Text gelernt, dass jemand, der "mehr als 75 Hektar Wald besitzt, (...) übrigens auch das Jagdrecht" innehat. Hm. Haben wir nicht weiter oben gelesen, dass der größte Privatwaldbesitzer gerade mal 13 Hektar besitzt? Wer hat denn nun das "Jagdrecht", wenn es die Privatbesitzer offensichtlich nicht sein können, und welchen Sinn erfüllt diese hanebüchene Nonsens-Information? Und wer hat diese Regelung wann und warum festgelegt? Wieso darf ein Normalbürger nicht auf die Pirsch in "seinem" Wald vor der Haustür gehen und beispielsweise einen kleinen, leckeren Osterhasenbraten im Wald erlegen? – Fragen über Fragen ...

So ließe sich der komplette lieblos zusammengeschusterte Text auseinandernehmen. Ich verzichte darauf, da ich davon ausgehe, dass der Bockmist jedem kritischen Leser ohnehin brennend ins Auge fällt.

Unterm Strich bleibt nur das im Kapitalismus ewig gleiche, widerwärtige Resümee. Auch die feudalen Strukturen des privaten Landbesitzes erfüllen in erster Linie eine einzige Funktion: Es geht – wie sollte es auch anders sein – um Profit, Bereicherung und schnöde Habgier. Die Menschheit ist im finstersten Mittelalter steckengeblieben und nichts deutet darauf hin, dass sich das in absehbarer Zeit ändern könnte.

Vielen Dank für die Desinformationen, lieber zwangsgebührenfinanzierter WDR.

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Hochfinanz



(Lithographie von George Grosz [1893-1959] aus dem Jahr 1922, in: "Ecce Homo", Malik 1923; Verbleib des Originals unbekannt)