Samstag, 21. Februar 2015

Das Fahrradwunder


Technischer Fortschritt, Innovation und Modernisierung

Eine Gastglosse von Altautonomer

Nichts hat sich in den letzten Jahren so rasant entwickelt wie der technische Fortschritt beim Bau von Mountainbikes und Fahrrädern schlechthin (Stichwort "E-Bikes"). Mal ganz abgesehen vom Material der Rahmen, die ursprünglich (selbst bei Rennrädern) aus Stahl, dann aus immer leichterem Aluminium bestanden und heute aus Kohlefasern (Carbon) gebaut werden, gehören andere Teile wie Lenker, Felgen, Sattelstützen und Bremszylinder aus Carbon heute schon zur Standardausstattung eines mittelpreisigen Mountainbikes. Die Konkurrenz kämpft um jedes Gramm Gewichtsreduktion.

Einen regelrechten Aufschwung™ legte aber der sogenannte "Antrieb" hin. Die ersten offenen Zweiventiler der Bergfahrräder des Erfinders Gary Fisher hatten noch vorne an der Kurbel drei Kettenblätter und hinten acht Ritzel (im Volksmund alles "Zahnräder" genannt). Das war der klassische Drei-in-acht-Antrieb. Dann wurde umgestellt auf neun, dann auf zehn Ritzel hinten, also der Drei-in-zehn-Antrieb mit 30 Gängen, die allesamt niemals zum Einsatz kamen, weil der diagonale Verlauf der Kette z.B. in der Kombination innenliegendes Kettenblatt vorne und äußeres, kleines Ritzel hinten dies nicht mitmachte. Lange Zeit hielt sich als Innovation dann die Drei-in-zehn-Version verschiedener Produzenten, bis bei den Überlegungen um eine Gewichtsreduzierung der Zwei-in-zehn-Antrieb offeriert wurde. Heute bietet die Firma SRAM sogar einen Eins-in-elf-Antrieb an. Doch das ist noch nicht das Ende.

Mittlerweile gibt es kabellose Elektroschaltungen, die mit jeweils einer Batterie am Schaltknopf des Lenkers und am Umwerfer der Ritzel ausgestattet sind. Schaltzüge und Schaltzughüllen entfallen. Dieses W-Lan in der Zweiradtechnik ist für knapp 2.000 Euro (also etwa fünf Monate Hartz IV) zu haben.

Als die Fahrradhersteller vor rund zwei Jahren festellten, dass sich der Markt trotz E-Bikes allmählich sättigte, wurden sogenannte Twenty-Niner auf den Markt geworfen. Das sind Mountainbikes mit 29-Zoll-Rädern, welche die seit über 25 Jahren üblichen 26-Zoll-Räder zwangsläufig ablösen werden, weil es sie nicht mehr zu kaufen geben wird.

Das sind die fortschrittlichen Segnungen, Innovationen und Modernisierungen des Kapitalismus.


Musik des Tages: Sinfonie Nr. 5, e-moll




  1. Andante - Scherzo (Allegro con anima)
  2. Andante cantabile, con alcuna licenza - Non Allegro - Andante maestoso
  3. Allegro moderato con patrioso
  4. Finale: Andante maestoso - Non Allegro - Presto furioso - Allegro maestoso - Allegro vivace

(Pjotr Iljitsch Tschaikowski [1840-1893]: "Sinfonie Nr. 5" e-moll, Op. 64 aus dem Jahr 1888; K&K Philharmoniker, Leitung: Matthias Georg Kendlinger)

Anmerkung: Diese Sinfonie gehört zu den Werken, die mich schon in den Jahren der Pubertät begeistert haben. Mein "erstes Mal" habe ich noch immer gut in Erinnerung: Anlässlich eines Wochenendbesuches bei kinderlosen Verwandten habe ich mich dermaßen gelangweilt, dass ich irgendwann angefangen habe, deren Schallplattensammlung durchzuhören - dabei stieß ich auch auf Tschaikowskis fünfte Sinfonie, die ich mir dann gleich vier- oder fünfmal nacheinander angehört und dabei "wie verzückt und der Welt entrückt" (Zitat meiner damaligen Gastgeber) vor den Lautsprecherboxen gehockt habe. Diese Musik ist einfach zeitlos - wild, aufregend und empfindsam.

Freitag, 20. Februar 2015

Zunehmende Armut: Und ewig grüßt der Zynismus


Es ist bereits zu einem jährlich wiederkehrenden Ritual geworden, dass die zunehmende Verarmung immer breiterer Bevölkerungsteile in Deutschland vom "Paritätischen Gesamtverband" medienwirksam aufbereitet in die Gazetten und damit unters Volk gebracht wird. So konnte man auch gestern beispielhaft bei n-tv wieder einmal lesen:

12,5 Millionen Deutsche sind arm / Der Paritätische Gesamtverband äußert sich besorgt. Es gebe einen "armutspolitischen Erdrutsch", noch nie sei die Kluft zwischen armen und reichen Ländern so groß gewesen. Dabei macht der Verband gleich mehrere Risikogruppen aus.

Dieser Bericht ist gleich in mehrfacher Hinsicht eine ebensolche Farce wie das zugrundeliegende Thema selbst. Einerseits wird durch die genannte Zahl von 12,5 Millionen Menschen suggeriert, es gebe bundesweit tatsächlich belastbare Zahlen, anhand derer ermittelt werden könne, wieviele Menschen in diesem Land tatsächlich arm sind. Die gibt es schlechterdings nicht - da fallen all jene ebenso durchs Raster, die eigentlich Anspruch auf staatliche Leistungen hätten, ohne diese in Anspruch zu nehmen, wie auch diejenigen, die nur über ein geringes Einkommen verfügen, das minimal oberhalb der willkürlich festgelegten "Armutsgrenze" liegt. Obdachlose bleiben ebenfalls unberücksichtigt, genau wie beispielsweise Studierende, die sich mühsam von einem prekären Semesterjob zum nächsten hangeln, oder auch allein und prekär arbeitende "Selbstständige". Meines Wissens - aber da kann ich mich irren - sind auch sämtliche in Deutschland lebende Flüchtlinge, denen bekanntermaßen noch weniger Geld als Erwerbslosen zugestanden wird, in dieser ominösen Zahl nicht enthalten.

Wie man angesichts dieser Datenlage in Verbindung mit einer absurden "absoluten Armutsgrenze" auf eine solche Zahl kommen und diese auch noch in Relation zu den Zahlen vergangener Jahre bringen kann, bleibt ein unlösbares, geradezu groteskes Rätsel. Die tatsächliche Armut in Deutschland dürfte wesentlich größer als dort berichtet sein.

Davon abgesehen betreiben der "Paritätische" und dessen Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider, die sich gerne als "Vorkämpfer gegen die Armut" gerieren, mir aber schon lange ein böser Dorn im Auge sind, hier ohnehin blanken Zynismus. Zur Lösung dieses gigantischen, unsäglichen und weiter zunehmenden Armutsproblems fordert der Verband nämlich tatsächlich - man lese und staune:

Als Gegenmittel verlangte der Paritätische eine Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes von 399 auf 485 Euro, Mindestsätze auch beim Arbeitslosengeld I sowie Beschäftigungsprogramme für Langzeitarbeitslose und "einen Masterplan für alleinerziehende Frauen".

Beim Barte des Propheten: eine so radikale, geradezu revolutionäre Forderung habe ich nun schon lange nicht mehr gelesen! Da sollen den Zwangsverarmten doch glatt stolze 86 Euro mehr ausgezahlt werden, und das Monat für Monat! Man kann sich gar nicht ausmalen, in welchem schillernden Luxus diese vielen Millionen Menschen plötzlich schwelgen könnten, wenn diese kommunistische Forderung Gehör fände! Ansonsten solle aber bitte alles so bleiben, wie es ist - den Hartz-Terror an sich findet der "Paritätische" offenbar ebenso toll wie "Beschäftigungsprogramme". Die faulen Säcke sollen offenbar ruhig für ihre paar Brotkrumen malochen müssen - auch dann, wenn es sich um sinnlose Arbeit (also "Beschäftigung") oder pure, schamlose Ausbeutung handelt. Der "Paritätische" nimmt selbst ja auch sehr gern die Dienste von Ein-Euro-Sklaven in Anspruch und will auf diese hübschen, kostenlosen und zur Arbeit gezwungenen Fachkräfte sicherlich nicht mehr verzichten. Immerhin verdient der Hauptgeschäftsführer dort, der besagte Herr Dr. Schneider, gewiss recht gut.

Das ist in einem kapitalistisch pervertierten Sinne durchaus "paritätisch" - allerdings darf sich ein solcher Verein bitte nicht "Wohlfahrtsverband" nennen. Eine Bezeichnung wie "Verband zur Sicherung des kapitalistischen Ausbeutersystems" wäre passender und vor allem etwas weniger zynisch.

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Habt Erbarmen mit den Sorgen eines armen alten Mannes



(Lithographie von Théodore Géricault [1791-1824] aus dem Jahr 1821)

Mittwoch, 18. Februar 2015

Zeitzeugen sprechen über Auschwitz (9): Schnipsel des alltäglichen Horrors


Der folgende Text ist ein kurzer Auszug aus der Zeugenaussage des Kommunisten und Holocaust-Überlebenden Hermann Holtgreve, die im Rahmen des sogenannten 1. Frankfurter Auschwitzprozesses am 31.07.1964 dokumentiert wurde. Die komplette Aussage kann - ebenso wie unzählige weitere Zeugenaussagen - auf den Seiten des Fritz-Bauer-Instituts nachgelesen und auch im Original angehört werden.

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In dem Jahre 1944 [Pause], ausgerechnet grade entweder eben vor Weihnachten oder auch gleich zu Heiligabend, [standen] zu beiden Seiten der Lagerstraße hohe Tannenbäume, die hell erleuchtet waren. Auf der rechten Seite, nach der Häftlingsküche ausgerichtet, hinter diesem Tannenbaum, stand ein großer Galgen. Und es wurden drei, es können auch vier Häftlinge gewesen sein, herangeführt. Und als diese Häftlinge oben das Podium betraten, da riefen die Häftlinge aus: "Es lebe der Sozialismus!" Daraufhin ist Herr Kaduk hergekommen und hat seinen Häftling erst noch verprügelt, und dann hat er ihm den Strick um den Hals gelegt. Herr Hofmann hat eigenhändig [den übrigen Häftlingen] den Strick um den Hals gelegt und auch den Schemel weggestoßen. [...] Anschließend hat Herr Hofmann eine Rede gehalten. Und zwar gipfelte die Rede darin, dass er sagte, diese Häftlinge würden zur Abschreckung für die anderen aufgehangen, und sie sollten drei Tage hängenbleiben, und dieses ist auch geschehen.

[...]

Und dann sagte Herr Hofmann [zu mir]: "Sie wissen doch, dass unser Führer ein Judenpogrom zu lösen" hätte. Ich habe die Frage bejaht, denn es blieb mir ja nichts anderes über. Dann bin ich mit diesen 100 Häftlingen rausmarschiert durchs Lagertor. Wir wurden draußen von der Wachmannschaft eingekreist, und so marschierten wir auf das Arbeitskommando zu. Als wir dort angekommen sind, verteilte sich die SS, so dass wir in der Mitte waren und die SS einen Ring bildete. Ich sagte zu den jüdischen Häftlingen: "Seid vorsichtig! Jeder, der außerhalb der Postenkette geht, wird ›auf der Flucht‹ erschossen."

Die Toilette wurde absichtlich außerhalb der Postenkette aufgestellt, so dass, wenn ein Häftling austreten musste – und man kann sich wohl vorstellen, dass Häftlinge aus der Strafkompanie wohl ziemlich durcheinander sind, [angesichts der] Angst, die sie haben. Und so sind Verschiedene durch die Postenkette gelaufen, und zwar auf folgende Weise: Man hat diesem Häftling, wenn er an diesen SS-Mann herantrat, die Mütze vom Kopf gerissen und hat sie außerhalb der Postenkette hingeschmissen und hat ihm dann gesagt, er soll die Mütze holen. Und bei diesem Mützeholen wurde dieser Häftling erschossen.

Ich darf wohl sagen, dass gerade an diesem Tag, meiner Meinung nach, eine regelrechte Treibjagd gewesen ist auf Häftlinge. Und so hatte ich an diesem Tage 28 Tote. Herr Hofmann kam im Laufe des Nachmittags mit einem Lkw herausgefahren und hatte sich dort mit dem Kommandoführer unterhalten. In der Regel war es ja so, dass wir Häftlinge unsere toten Kameraden ja immer selbst mit ins Lager bringen mussten. Aber in diesem Fall schickte Herr Hofmann einen Lkw heraus, und die Toten wurden darauf verladen. Ich gab des Abends nach dem Appell den Zettel ab, worauf die einzelnen Nummern der Häftlinge standen, und somit war dieser Tag beendet.

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Landschaft mit Grab, Sarg und Eule



(Zeichnung von Caspar David Friedrich [1774-1840] aus dem Jahr 1836/37. Bleistift und Sepia auf Papier, Kunsthalle Hamburg)

Dienstag, 17. Februar 2015

Zitat des Tages: Die Frau des Henkers


Die Frau des Henkers aß eines Mittags nicht mehr weiter.
Ihr Mann verspeiste grad ein junges Huhn.
Sie sah ihm zu ... und wusste nicht,
warum sie sich an ihren Hochzeitstag erinnern musste
und an die Myrthen, und dass jemand sang.
Es war ein weißes Huhn gewesen,
so sanft und weiß und warm
und ganz geduldig unter dem Messer.
Nun aß es ihr Mann, und ein Tropfen Fett
rann über seine weiß gebürsteten Finger.

Da schrie sie, ganz so, wie ihr Mann
es von manchen Verurteilten erzählte,
wenn sie ihn sahen.
Sie schrie und stieß ihren Teller von sich
und lief hinaus, durch den kleinen Vorgarten
und die Straßen der Stadt,
durch das Feld mit Mohn
und das Feld mit Weizen
und das Feld mit dem grünen Klee.
Sie suchten sie lange vergeblich.

(Hertha Kräftner [1928-1951], in: "Das blaue Licht. Lyrik und Prosa", Luchterhand 1981)

Montag, 16. Februar 2015

Realitätsflucht (15): A Final Unity


Die heutige Spielempfehlung greift - man glaubt es kaum - noch tiefer in die schon halb vergrabene Mottenkiste als ich das zuvor gewagt habe: Heute geht es um das "Point & Click"-Adventure "Star Trek: A Final Unity". Dieses von Spectrum HoloByte entwickelte Spiel aus dem Jahr 1995 entführt den Spieler - oh Wunder - auf die Brücke des Föderationsraumschiffs U.S.S. Enterprise 1701-D, wo die Crew um Captain Picard durch allerlei heikle Missionen am Rande der "neutralen Zone" (und natürlich weit darüber hinaus) gesteuert werden muss - was selbstverständlich auch viele Außenmissionen nach sich zieht.



Eines vorweg: Dieses Spiel ist so alt, dass es auf heutigen Computersystemen längst (meines Wissens spätestens seit Windows XP) nicht mehr läuft. Allerdings ist es relativ leicht, es mittels eines virtuellen Systems, das beispielsweise ein kostenloses Programm wie DOSBox generieren kann, auch unter Windwos 7 wieder zu neuem Leben zu erwecken - zumal es freundliche Zeitgenossen dort draußen gibt, die das Spiel als direkt installierbare Version inklusive DOSBox zum Download anbieten, so dass man nichts weiter tun muss als es einfach wie gewohnt zu installieren und zu starten. Das ist zwar illegal - wenn man allerdings im Besitz der Original-CD ist, sollte niemand etwas dagegen haben können, diese modifizierte Version zu benutzen.

Zur Geschichte will ich nichts weiter spoilern - es ist eben ein Star-Trek-Abenteuer der "Next Generation"-Crew, das sich keineswegs zu verstecken braucht und auch in filmischer Umsetzung angemessen ins Bild gepasst hätte. Die englische Vertonung des Spiels haben die originalen Schauspieler Patrick Stewart, Jonathan Frakes etc. übernommen - über die deutsche Version kann ich nichts sagen, da ich sie nicht gespielt habe. Zur Grafik muss ich wohl auch keine Bemerkungen verlieren - ein 20 Jahre altes Computerspiel weckt diesbezüglich wohl nirgends sonderlich hochtrabende Erwartungen. Gerade die Hintergrundgrafiken bei Außenmissionen erinnern allzu oft an expressionistische Gemälde, da sie nur aus verschwommenen Farbmixturen bestehen. Dennoch kann ich feststellen, dass es dem Spiel auch heute noch gelingt, dem Spielenden glaubhaft zu suggerieren, er sei ein Teil der Crew von Picard, Riker, Data, Crusher, La Forge, Troi und Worf. Dazu tragen auch die wunderbar detailgetreuen Umsetzungen des Computerinterfaces, des Computerlogbuches und natürlich die originalgetreuen Sounds bei - jeder "Trekkie" weiß schließlich, wie es sich anzuhören hat, wenn ein Kommunikator berührt wird, eine Tür sich öffnet oder der Computer benutzt wird.

Das alles - vom Spiel selbst bis hin zur dadurch vermittelten Metaebene der sozialistisch konzipierten Star-Trek-Welt - ist angesichts unserer heutigen, einmal mehr aus dem Ruder laufenden Zeit natürlich pure Nostalgie, ich weiß. Nichts anderes wollte ich aber erreichen, als ich das Spiel vor einigen Monaten installierte und ausprobierte. Und diesen Zweck hat es perfekt erfüllt. Sollte die Enterprise unseren Orbit auf einer Zeitreise jemals passieren, bitte ich sehnlichst darum, mitgenommen zu werden - und wenn ich auch nur als Koch oder Kellner in "Zehn Vorne" fungieren darf. Ich kann - anders als Neelix auf der Voyager - tatsächlich gut kochen! :-)

In dieser furchtbaren Endzeit des kapitalistischen Showdowns samt aller faschistischer Auswüchse möchte ich wirklich, wirklich nicht ausharren müssen.