Freitag, 5. Juli 2013

Zitat des Tages: Die Brücke


Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. – So lag ich und wartete; ich musste warten. Ohne einzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören, Brücke zu sein.

Einmal gegen Abend war es – war es der erste, war es der tausendste, ich weiß nicht, – meine Gedanken gingen immer in einem Wirrwarr und immer in der Runde. Gegen Abend im Sommer, dunkler rauschte der Bach, da hörte ich einen Mannesschritt! Zu mir, zu mir. – Strecke dich, Brücke, setze dich in Stand, geländerloser Balken, halte den dir Anvertrauten. Die Unsicherheit seines Schrittes gleiche unmerklich aus, schwankt er aber, dann gib dich zu erkennen und wie ein Berggott schleudere ihn ans Land.

Er kam, mit der Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine Rockschöße und ordnete sie auf mir. In mein buschiges Haar fuhr er mit der Spitze und ließ sie, wahrscheinlich wild umherblickend, lange drin liegen. Dann aber – gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal – sprang er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. Wer war es? Ein Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter? Und ich drehte mich um, ihn zu sehen. – Brücke dreht sich um! – Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte, und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich immer so friedlich aus dem rasenden Wasser angestarrt hatten.

(Franz Kafka [1883-1924]: "Die Brücke", entstanden 1916/17, erst posthum veröffentlicht, in "Nachgelassene Schriften und Fragmente 1", hg. von Malcolm Pasley, 1993)


Anmerkung: Es gibt nur wenige Texte, die unsere furchtbare Zeit so gut beschreiben wie dieses kleine Juwel von Kafka. Ich lese seit geraumer Zeit immer wieder in irgendwelchen abstrusen Interviews oder anderen Berichten, das Werk Kafkas sei "unzugänglich", "sperrig" oder gar "schlecht zu verstehen" - und kann mit solchen leichtfertigen Urteilen so gar nichts anfangen. Was soll beispielsweise an diesem Text so "unzugänglich" sein? Da kann ich immer wieder nur ermuntern: Leute, werft doch Euer Gehirn an - es ist zu wesentlich mehr fähig als nur zur schnöden Reproduktion, Geldbeschaffung, verdummenden Unterhaltung und zum Konsum - auch wenn der Kapitalismus gar nicht mehr von Euch verlangt bzw. Euch gar nicht mehr zubilligt als diese elementaren Basisfunktionen.

Man kann lange Aufsätze über diesen kleinen Text schreiben, und sie sind alle "erlaubt" - denn es gibt keine "richtige" oder "einzig gültige" Interpretation von Texten, zumal aus der Feder Kafkas; es gilt wie immer in der Kunst: Das Ergebnis entsteht erst beim Rezipienten und nicht schon im Hirn des Künstlers. Der kann zwar eine bestimmte Intention verfolgen und tut das zumeist auch, aber ob das auch genauso bei anderen Menschen ankommt, ist eine völlig andere Frage. Das ist wirkliche Kreativität: Bemühe Deine eigenen Gedanken, wenn Du etwas liest, ansiehst oder anhörst - und scher Dich erst einmal nicht darum, was der Urheber damit vielleicht gemeint haben könnte. Mit diesem Ansatz liest sich auch jeder Text von Kafka völlig flüssig und ist weit entfernt von irgendeiner herbeifabulierten "Sperrigkeit".

Wenn man tiefer einsteigen und den Künstler - den Menschen - vielleicht besser kennen und verstehen lernen will, kann man sich immer noch näher mit seiner Biografie, seinem Leben und Werk beschäftigen. Ob die Interpretationen dann stets an Qualität gewinnen, will ich aber generell in Frage stellen. Letztlich ist es doch immer bedeutender, was ein Kunstwerk konkret auslöst oder bewirkt - und nicht das, was der Urheber möglicherweise ursprünglich im Sinn hatte.

Ich möchte nicht in der bedauernswerten Lage sein, in der heutigen gruseligen Zeit beispielsweise eine Abi-Klausur über Kafka schreiben zu müssen - da wird sicherlich nach strengsten neoliberalen Maßstäben und Kategorien beurteilt, welche Interpretationen "richtig" und welche "falsch" sind. Jene Maßstäbe dürften - ebenso wie das neoliberale, kapitalistische System an sich - dermaßen abstrus und absurd sein, dass ein wacher, eigenständiger Geist gar nicht anders kann als daran komplett zu verzweifeln und sich in eine wirklich kafkaeske Alptraumwelt gestoßen zu sehen.

Was ja auch der Realität entspricht.

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