Samstag, 3. Dezember 2011

Ein etwas anderer Bericht aus Amerika

1999 gründete [Sole] das Label Anticon und revolutionierte damit die Rapmusik. Jetzt ist der Antiheld des US-Hip-Hop eine zentrale Figur der Occupy-Proteste in Denver. (...)

Sole: Anders als die USA ist die Schweiz kein Drittweltland. Wir aber haben alles verloren. Den Wohlstand. Die Moral. Den Humor. Wir haben Barack Obama gewählt. Er hat uns Hoffnung auf einen nötigen Wandel gemacht. Er hat alle Versprechen gebrochen. Obama ist ein Mann der Wall Street, ein neuer Ronald Reagan. (...)

Wir sind vor allem auch moralisch völlig am Anschlag. Ich bin kein Ökonom. Ich weiß nur, dass der Preis eines Marschflugkörpers dem Jahreslohn von vierzig Lehrern entspricht. Wir streichen Lehrerstellen, weil wir andere Länder zerbomben und dann neu aufbauen müssen. Das ist alles, was von Obamas Versprechen geblieben ist. Darum die Explosion: Die Bewegung entstand vor sechs Wochen an der Wall Street. Inzwischen protestieren in 1200 Städten Millionen von Menschen. (...)

Die USA sind die größte Macht in der Geschichte der Menschheit. Konzerne bestimmen über unser Leben. Sie bestimmen Politik, ihnen gehören die Medien. Das Occupy-Modell ist direkte Demokratie, totale Transparenz. Keine Geheimdeals, keine Absprachen in Hinterzimmern. Sie müssen wissen: Es gibt in den USA keine funktionierende Linke mehr. Die Linke hatte den Achtstundentag erkämpft. Wie lange ist das her? Siebzig Jahre? Dann wurde sie systematisch geschwächt und unter Reagan beerdigt.

Die einzigen Linken, die gehört werden, sind Akademiker. Noam Chomsky zum Beispiel. Diese radikalen Professoren gibt es überall, sie sind extrem populär, aber sie haben keine Macht. Zum ersten Mal, seit ich lebe, stehen in den USA Leute für ihre Rechte auf: ältere Ladys, fünfzigjährige Arbeiter, junge Anarchisten, Kids, Studentinnen, Ex-Cops und unzählige Veteranen aus dem Irak, aus Afghanistan, Vietnam, Somalia, Kolumbien, Panama. Alle sagen dasselbe. (...)

Ich bin nicht naiv. Das hier ist nicht Tunesien. Wir legen uns mit einer Macht an, die unbesiegbar ist. Der einzige Mensch in den USA, der mehr Morddrohungen erhält als George W. Bush, ist Michael Moore, der sich seit zwanzig Jahren für die Leute in diesem Land engagiert. Was sich aber extrem schnell geändert hat, ist die Art der Kommunikation. (...)

In einem Land, das regiert wird durch Geheimabsprachen und Hinterzimmerdeals, ist direkte Demokratie die totale Revolution.

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Anmerkung: Nach der bisherigen Berichterstattung über die aktuelle Situation in den USA war ich der Meinung, dass die neoliberale Propaganda und mediale Gleichschaltung dort weitestgehend funktionieren und es kaum gesellschaftlichen Protest gibt. Dieser Rapper aus Denver zeichnet nun ein etwas anderes Bild - eines, das wesentlich mehr Protestpotential in sehr vielschichtigen Bereichen der amerikanischen Gesellschaft vermuten lässt. Falls das stimmt, wäre das fantastisch ... aber vielleicht ist hier auch nur der Wunsch der Vater des Gedankens? Formulierungen wie "Alte Damen stellen sich vor uns, lassen sich für uns von Schlagstöcken die Arme brechen, und es ist ihnen egal. Das ist toll!" lassen das jedenfalls vermuten.

Andererseits ist es sicherlich hilfreich, wenn solche Meinungen (wenn auch natürlich nicht in den Mainstreammedien) verbreitet werden. Ich weiß nicht, wie populär dieser Sole ist - mit Rap-Musik habe ich nichts am Hut -, aber wenn er diese Popularität dafür nutzt, revolutionäre Samen zu streuen, ist das doch sehr zu begrüßen.

Wieder einmal fällt hier aber eine - wohl "typisch amerikanische" - Ignoranz sehr unschön auf: Selbst diesem Rapper erscheint es offenbar als völlig selbstverständlich, dass jeder Bürger die Möglichkeit hat, einen selbst angebauten Drei-Jahres-Vorrat (sic!) an Gemüse im Keller oder sonstwo einzufrieren, um "unabhängig" zu sein. Wie grotesk eine solche Vorstellung für die überwältigende Mehrheit der Menschen - sicherlich auch in den USA - ist, fällt ihm offenbar nicht einmal auf. Wer sich so viele Tiefkühltruhen samt dem notwendigen Platz und Strom dafür leisten kann, hat offenbar den Blick für die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen völlig verloren.

Schizophren geht die Welt zugrunde.

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