Mit diesem Thema habe ich mich schon öfter beschäftigt – nun habe ich aber eine sehr anschauliche, komprimierte Zusammenfassung des "zeitgeistigen" Wahnsinns gefunden, die vor einigen Tagen bei spektrum.de zu lesen war. Dort war unter dem Titel "Rettung aus der digitalen Gruft" zu erfahren:
Häufig sind die Betriebssysteme moderner Computer nicht mehr in der Lage, in alten Formaten geschriebene Dateien zu lesen. Lori Emerson, die Direktorin des Media Archaeology Lab der University of Colorado in Boulder liefert ein Beispiel: Um eine mysteriöse Datei von einer alten Zip-Diskette zu retten, musste zunächst ein passender Computer aufgespürt werden – ein Power Macintosh 8100 aus dem Jahr 1994 mit dem Betriebssystem OS 7. Die Datei entpuppte sich als Verzeichnis einer alten Version des Literaturverwaltungsprogramms EndNote.
Die Lektüre lohnt sich sehr; allerdings reißt der Artikel das viel tiefer gehende Problem dennoch nur sehr oberflächlich an – zumal ich mich frage, wie "Betriebssysteme" überhaupt Daten lesen können sollen. Aber über solche Kleinigkeiten sehen wir ja gerne hinweg. Schließlich ist es ein alter Hut, dass alles, was nur digital gespeichert wird, jederzeit auch rückstandslos gelöscht werden kann – dabei ist es völlig egal, ob das absichtlich, versehentlich oder einfach aufgrund zerstörter oder nicht mehr les- oder entschlüsselbarer Datenträger geschieht. Die Entschlüsselung "alter" Daten ist dabei nur ein Randproblem – und jedem, der jemals ein "altes" Buch, vielleicht von vor hundert Jahren, gelesen hat, sollten sofort die roten Alarmglocken im Schädel klingen, denn im Text geht es vornehmlich um Daten, die noch nicht einmal 25 Jahre alt sind und dennoch aufwändig – und im beschriebenen Fall rein zufällig – dennoch "gerettet" werden konnten.
Es ist gar nicht auszudenken, wieviele Informationen, Kunstwerke, wissenschaftliche Daten, Texte, Musikstücke, Briefe etc. durch den ungebremsten Digitalisierungswahn zukünftig unweigerlich verloren gehen werden. Da wird es in fünfzig, hundert, zweihundert oder dreihundert Jahren keine Funde mehr geben können, die in irgendeiner Form mit alten Schriftrollen, Gemälden, Büchern, Fotos, Filmen, Briefen, Partituren oder – ja, sogar das – Karteikarten vergleichbar wären.
Man stelle sich nur einmal vor, die Nazis hätten seinerzeit beispielsweise den bürokratischen Terror des Holocaust in Auschwitz digital dokumentiert und am Ende einfach löschen können – wir wüssten heute, abgesehen von mündlichen Zeugnissen und eventuellen vereinzelten Funden, nichts vom wirklichen Ausmaß der Jahrhundertverbrechen. Dasselbe betrifft sämtliche Bereiche des menschlichen Lebens – Gesellschaft, Politik, Kultur, Kunst, Wissenschaft und sogar den Boulevard. Es ist ein historisches Fiasko gigantischen Ausmaßes, das sich hier unter den Augen aller anbahnt. Und die im Spektrum-Text erwähnte "Datenrettung" ist sogar weniger als ein – zumal sehr teures, also nur ausgewählten Personen verfügbares – Feigenblatt, welches das hässliche Gemächt des kollektiven Vergessens nicht einmal im Ansatz zu verbergen vermag.
Einer der Wissenschaftler, dessen Datenrettungsversuche im Text etwas näher beleuchtet werden, kommt denn auch zu dem naheliegenden Schluss:
"Wenn man Daten erhalten will", so folgert McCarthy, "dann setzt man sich am besten in Bewegung, solange die Leute, die die Daten produziert haben, noch unter uns sind."
Wir leben in einem wahrhaft "modernen", "zukunftsweisenden" Zeitalter, fürwahr. Leider glauben diesen Unsinn die meisten Mitglieder dieser narkotisierten Bevölkerung wohl tatsächlich, während sie über ihre Dumpf-Phones bzw. Staatswanzen wischen. Das stumpfsinnige Vergessen ist offenbar nur ein Feature des Kapitalismus, aber keine zwingende Voraussetzung für die kollektive Verblödung.
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Der Mensch
(Illustration von Matt Mahurin [*1959] aus dem Jahr 1986 [?], unbekannter Verbleib)
6 Kommentare:
Was?
Ich habe nichts gesagt. Fuuuußball! :-)
Vor ein paar Jahren hat man doch nochmal Orginal-Filmaufnahmen und Datenbänder von den Nasa-Mond-Missionen gefunden in irgendeinem Lagerhaus!
Bei überforderten Postboten wird ja immer wieder einiges an Material gefunden was so im Laufe von Jahen anfiel.
Dem entsprechend könnte man vermuten,das es bei grossen Firmen oder Behörden ähnliches gibt
(Peter-Prinzip)-nur in GROSS!
Die Verantwortlichen werden gelobt das sie die Datenmengen so toll verwalten können,aber vielleicht haben sie nur gute Konditionen/Menenrabatte bei Lagerhäuser?!
Da kommen noch einige Überraschungen in der Zukunft auf uns zu
-bei Auktionen des Inhaltes von Lagerraum,deren Miete nicht mehr bezahlt wurde,hihi
Oder das mit der Ausgrabung des E.T.-Konsolenspiels! Nice.
Ein so wichtiges Thema das aber kaum jemand begreift. Danke für die Erinnerung bevor das Vergessen vollendet ist!
Und selbst wenn uns der ganze digitalisierte Kram erhalten bleibt, steht der Geschichtslosigkeit schon heute immer weniger im Wege. Oder erinnert sich der durchschnittliche Social-Media-User in 10, 20 oder 30 Jahren wirklich noch daran, welchen Kram er verzapft, gepostet oder welche Artikel er mit seiner schon vorgefassten Meinung überflogen hat? Ganz zu schweigen von den ganzen privaten Bildchen und Filmchen, die sich im Laufe des Lebens auf dessen Smartphones oder irgendwelchen "Wolken" angehäuft haben.
Mal anders gesagt - nehmen wir eine Zeitung aus Papier. Man liest einen Artikel und legt sie dann auf den Tisch. Die Zeitung ist noch da. Sie verschwindet erst, wenn man sie im Container entsorgt. Normalerweise verweilt (sic) sie einen Tag in der Wohnung, liegt herum, auf dem Tisch oder sonstwo. Der gelesene Artikel ist physisch noch präsent. Falls man ihn interessant oder gut fand, so liest man ihn am selben Tag vielleicht noch einmal, setzt sich an den besagten Tisch oder von mir aus auch in einen Sessel am Fenster und hält ihn noch einmal in der Hand (sic). Es handelt sich um ein "Dokument" und nicht um einen digitalen Geist auf einem Bildschirm. Um etwas anderes handelt es sich nämlich nicht bei den "Timelines". Es gibt dort kein (Inne-)Halten. Von daher sind - meiner bescheidenen Meinung nach - "Plattformen" wie Facebook und Twitter einer Reflexion und eines gewissen Geschichtsbewusstseins abträglich. Und dabei sind es gerade solche "Medien", die zunehmend als Ersatz für Zeitungen und Zeitschriften genutzt werden oder selbige im "Online-Bereich" durchdringen und beeinflussen.
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