Montag, 9. Juli 2012

"Song" des Tages: Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei


In Ermanglung einer anderen Quelle könnt Ihr Euch diese großartige Vertonung eines Textes von Jean Paul auf dieser Seite anhören (auf das orangefarbene Abspielsymbol klicken) und/oder herunterladen (auf "Download" darüber klicken).

(Oskar Sala: "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei", aus dem Album "My Fascinating Instrument", 1990 - Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1986.)



Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf einem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Turmuhr hatten mich erweckt. Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der bloßen Luft. Am Himmel hing ein grauer schwüler Nebel, den ein Riesenschatten immer näher, enger und heißer herein zog. Über mir hörte ich den fernen Fall der Lawinen, unter mir den ersten Tritt eines unermesslichen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer hinan, und unter dem Schimmer lief das Blei und Eisen zerschmolzen nieder. Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedrückt waren. - Alle Schatten standen um den Altar. Oben am Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf sehen.

Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: "Christus! ist kein Gott?"

"Es ist keiner."

"Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schaute in den Abgrund und rief: 'Vater, wo bist du?' - Schreiet fort, Misstöne; denn Er ist nicht!"

"Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? - Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alls! - Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur sein Echo - ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf eure Erde hinab, und dann entsteht ihr - bewölkte, schwankende Bilder. - Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen - erkennst du deine Erde?"

"Ihr Glücklichen, ihr glaubt Ihn noch. Ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen auf die Knie und rufet zum Himmel hinauf: 'Auch mich kennst du, Unendlicher!' ... Ihr Unglücklichen. Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in die Erde legt, so erwacht er im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht! - Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren."

Meine Seele weinte vor Freude, als ich erwachte. Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus.

(Text aus: Jean Paul: "Siebenkäs. Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel", Roman, 1796–97. - Den kompletten Textauszug gibt's hier.)

Anmerkung: Dieser Text wurde von Jean Paul ursprünglich zur Befürwortung der Gottesgläubigkeit konzipiert - so jedenfalls wird er häufig (insbesondere von Theologen) interpretiert. Oskar Sala hat ihn durch gezielte Verkürzungen und seine geniale Vertonung in das genaue Gegenteil verkehrt. Selten zuvor hat ein "sakrales" Musikstück eine größere emotionale Reaktion bei mir verursacht wie dieses - schon vor über 20 Jahren.

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