Samstag, 6. April 2013

Die "Erfolge" der Agenda 2010 - ein offener Brief an Jürgen Borchert


Lieber Sozialrichter Jürgen Borchert,

laut einem Interview, abgedruckt in der Süddeutschen Zeitung, stellten Sie kürzlich verwundert fest: "Warum in diesen Tagen die Agenda 2010 als Erfolg begriffen wird, ist mir ein Rätsel." Das wiederum verwundert mich doch sehr, denn es dürfte auch Ihnen ja nicht unbekannt sein, dass die "offiziellen Ziele" der Hartz-Deformierungen nicht mit den tatsächlichen Zielen, von denen Sie einige im besagten Interview ja sogar selbst benennen, übereinstimmen. Sie befinden sogar: "Bei einer Straftat wie einer mittelschweren Körperverletzung darf die fällige Geldstrafe das pfändungsfreie Einkommen, also das Existenzminium, nicht antasten. Wenn Sie aber zu spät zum Laubharken antreten oder Pflichtbewerbungen nicht erledigen, dann bekommen Sie Sanktionen aufgebrummt, die auch auf das Existenzminimum zugreifen. Mit solchen Pflichtwidrigkeiten ist man also als einfacher Arbeitsloser unter Umständen übler dran als ein Straftäter." In der Tat - und genau das war eines der "inoffiziellen" Ziele der Katastrophen-Agenda. Oder glauben Sie allen Ernstes, ein solcher Fauxpas, der die Belange von Millionen von Menschen in diesem Land betrifft, könne den größtenteils studierten Damen und Herren in Berlin versehentlich unterlaufen?

Es ist also kein Wunder, dass die neoliberale Bande inklusive der angeschlossenen Presse in den vergangenen Wochen geradezu Jubelarien auf die "Erfolge der Agenda 2010" gesungen hat, denn nahezu alles, was tatsächlich beabsichtigt war, ist auch erfüllt worden: Der herbeigesehnte "Niedrigstlohnsektor" ist geschaffen worden - Deutschland ist heute europaweiter Meister darin, Millionen von Menschen auch bei einer Vollzeittätigkeit einen so niedrigen Lohn zu zahlen, dass nicht einmal das so genannte und bei weitem nicht ausreichende Existenzminimum erreicht wird. Davon haben Schröder und Co. (sowie die Trittbrettfahrer von Schwarz-Geld und natürlich die Strippenzieher im Hintergrund) geträumt - wie in unzähligen Reden aus den Amtszeiten der rot-grün-schwarz-gelben Bande nachzuhören ist. Arbeitslose sind heute einem Zwangssystem ausgesetzt, das beispiellos in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands ist: Sie sind nicht nur übler dran als Straftäter, wie Sie zu Recht feststellen, sie werden auch konsequent zwangsverarmt, schikaniert, gegängelt, überwacht und mit jedem einzelnen Schreiben vom Amt in einer so massiven Form in der gesamten Existenz bedroht (obligatorische Androhung der unverzüglichen kompletten Einstellung aller Zahlungen inkl. Miete und Krankenkassenbeiträgen), die ich nur noch als kriminell bezeichnen kann. Auch dies ist kein "zufälliges Nebenprodukt" der Agenda 2010, sondern selbstredend ein zentrales Kernelement, das in dieser Form durchaus auch nach 1933 hätte ersonnen werden können.

Ich könnte noch viele weitere Punkte herausgreifen, die allesamt in dieselbe Richtung führen - ich denke aber, dass auch Ihnen, lieber Herr Borchert, schon jetzt klarer geworden sein sollte, wieso die menschenfeindliche Kapitalistenbande die Agenda 2010 nach wie vor so bejubelt. Es empfiehlt sich auch, im Zusammenhang mit den Gesetzestexten des Hartz-Terrors die Begriffe "Kunden" oder "Arbeitslose" testhalber durch einen anderen Begriff, wie beispielsweise "Juden", zu ersetzen - auch dann wird schnell deutlich, wes' Geistes Kind dieses üble Machwerk ist. Das klingt dann beispielsweise so:

"§66 SGB I:
(1) Kommt [der Jude] seinen Mitwirkungspflichten nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger [sic!] ohne weitere Ermittlungen die Leistung [...] ganz oder teilweise versagen oder einziehen [...]. [Hervorhebung von mir, Anm.d.Kap.]"

In eine solche marode, mit Dornen, Salzsäure und jederzeit willkürlich zerschneidbaren Halteseilen ausgestattete "soziale Hängematte" über dem Abgrund legt sich sicherlich jeder Mensch sehr gerne. Lieber Herr Borchert, Sie erkennen die asoziale Kälte dieser Deformierungen ja sehr genau und benennen sie auch immer wieder - daher ist es mir ein Rätsel, wieso auch Sie offenbar noch immer der öffentlichen Mär anhängen, diese seien "Fehlentwicklungen" bzw. "nicht beabsichtigte Nebenwirkungen" der Agenda, wenn doch klar erkennbar ist, dass eben diese asoziale Kälte der eigentliche Sinn und Zweck der Hartz-Zerstörungen war und ist.

Herzlichst, Ihr
Charlie.

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Damals Satire, heute Hartz-Terror-Paralleluniversumsrealität: Erwerbslose unterstehen der so genannten "Residenzpflicht" - was nichts anderes bedeutet, als dass sie sich ohne Erlaubnis der Behörde nicht für länger als einen Tag vom Wohnort entfernen dürfen, mit der hochalbernen Begründung, dass der Erwerbslose für das Amt schließlich ständig erreichbar sein müsse, da sich jederzeit ein "kurzfristiges Arbeitsangebot" ergeben könne. Der wirkliche Grund ist natürlich auch hier ein anderer - es geht um die lückenlose Überwachung der Menschen und wie immer um Schikane, um die Inanspruchnahme von "Sozialleistungen" so unattraktiv wie nur irgend möglich zu machen - so als gebe es massenhaft Menschen, die eine Wahl hätten.

Optimismus


"Kinners, wenn's schon keene Arbeit gibt, gehen wir doch mal rasch eenen heben." - "Na, und wenn nu gerade während der Zeit der wirtschaftliche Uffschwung eintritt?"

(Zeichnung von Marcel Frischmann [1900-1952], in "Simplicissimus", Heft 43 vom 25.01.1932)


4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hallo,

ich bin da ganz Deiner Meinung! Mir fällt auch auf, dass Hartz IV-Kritiker - also wie hier eben auch dieser Richter Borchert - die eigentliche Absicht des Hartz-Terrors nicht verstanden haben! Die haben da wirklich enorme Illusionen! Die sind in ihrem Kopf auch zu weit weg! Die können gar nicht so weit denken, dass sie drauf kommen, dass diese katastrophale Agenda 2010 all das ganze Leid und Elend, was sie erzeugt, auch erzeugen sollte! DAS WAR JA VOLLE ABSICHT! Dieser zynische und menschenverachtende, vollkommen aggressive und total cholerische Wolfgang Clement, seinerzeit Arbeitsminister im Kabinett dieses asozialen Vollpfostens Gerhard Schröder, und den ich selbst immer nur als den 'Reinhard Heydrich des Neoliberalismus' bezeichne, hat das alles so gewollt, wie es jetzt ist! Da gibt es keine Fehlentwicklungen, keine Auswüchse - nee, nee! Das war alles so gewollt! Hartz IV als Hetze, Demütigung, Schikane, Entwürdigung und Entmenschlichung der Betroffenen! Alles so beabsichtigt! Mich selbst hat es auch eiskalt befremdet, wie die da vor einigen Wochen diese 10 Jahre Hartz-Gesetzgebung so gross feierten. Es lief mir eiskalt den Rücken runter! Wie doch dieses feiste Elefantengesicht von Frank-Walter Steinmeier in die Kamera reinheuchelt, Hartz sei eine ganz tolle Sache gewesen - zum Kotzen! Aber am allerschlimmsten fand ich die Bewertung dieser ganzen Hartz IV-Scheisse durch diese grausame Chefin der Wirtschaftsredaktion der WELT, dieser m. E. so widerwärtigen, unaushaltbaren und total asozialen Dorothea Siems (diese Frau hasse ich wirklich bis auf' s Blut!!!), die doch tatsächlich in die Kamera reinsagte: 'Hartz-Gesetzgebung, das war ein grandioser Erfolg!'. Ja, diese ganze neoliberale Bande sollte man allesamt in den Rhein scheissen!

Gruß aus dem Saarland, von dem, der seinen Mantel teil!

Anabelle hat gesagt…

Es kann nicht sein, was nicht sein darf, das ist wohl das Motto auch von Borchert!

Ich unterschreibe diesen Brief jedenfalls, auch wenn das nichts nutzt.

Charlie hat gesagt…

@ Anonym: Manchmal muss man einfach mal den Druck ablassen, das kenne ich gut. ;-) Ich habe ja selbst erst einmal etwas Zeit verstreichen lassen müssen, weil mir diese widerlichen Jubelarien auf die Agenda-Deformierungen den Blutdruck in ungeahnte Höhen getrieben haben und ich sicher sehr ausfällig geworden wäre, wenn ich schon früher etwas dazu geschrieben hätte.

Man sollte jeden Befürworter diese verkackten Agenda dazu verdonnern, selber auch nur noch mit einem von ihnen so geliebten Niedrigstlohn abgespeist zu werden und damit als "Aufstocker" oder gleich als Arbeitslose/r dem Hartz-Terror ausgeliefert zu werden. Dann könnten diese zynischen Flachpfeifen ihre "Erfolge" am eigenen Leib spüren und kämen womöglich zu einer ganz anderen Beurteilung.

Solidarische Grüße!

Charlie hat gesagt…

@ Anabelle: Diese ganze Bloggerei ist nutzlos ... trotzdem gibt's viele, die das Tun, und noch mehr lesen das sogar. Es gibt Dinge, die tut man einfach, auch wenn sie nutzlos sind. ;-)

Liebe Grüße!