Donnerstag, 6. Februar 2014

Die Glorifizierung des "Spirit of ’45" - eine Metakritik


1945, der Krieg in Europa war vorbei, der Faschismus besiegt. Zu Hunderttausenden kehrten britische Soldaten von den Schlachtfeldern zurück, froh, dem Gemetzel entkommen zu sein, und sich einig, dass sich alles nicht mehr wiederholen darf: "Nie wieder Krieg", aber auch keine Rückkehr zum Frieden der 1930er Jahre mit seiner hohen Arbeitslosigkeit, der Wohnungsnot, dem Massenelend. (...)

Was folgte, war für britische Verhältnisse revolutionär. Labour hielt sich an die Zusagen und krempelte die Gesellschaft um. Die Partei verstaatlichte die Schlüsselindustrien: die Eisenbahnen, die Häfen, den Flugverkehr, die Werften, die Zechen, die Stahlwerke, die Strom-, Gas- und Wasserfirmen. Sie führte den steuerfinanzierten National Health Service (NHS) – das staatliche Gesundheitswesen – ein, investierte in das Bildungswesen, baute den Wohlfahrtsstaat aus und legte ein gigantisches Programm zum Bau erschwinglicher Sozialwohnungen auf. Dabei war der Staat pleite gewesen.

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Anmerkung: Den Film von Ken Loach, auf den sich dieser WOZ-Artikel bezieht, sollte man wohl gesehen haben. Allerdings wird anhand des Textes auch deutlich, dass hier wieder einmal nur eine "Ausschnitts-Lupe" benutzt wurde, die den Blick auf das Ganze unterlässt bzw. sogar verhindert. Wenn ein System kollabiert - wie das mit dem Kapitalismus Anfang des 20. Jahrhunderts geschehen ist - und man dasselbe System danach einfach "neu startet", ist es geradezu naiv anzunehmen, dass die Entwicklung bei etwas veränderten Startansätzen langfristig einen anderen Verlauf nehmen könne. Mit anderen Worten: Sämtliche Grundübel wurden auch 1945 nicht in Frage gestellt, verändert oder abgeschafft, sondern einfach beibehalten - man hat lediglich die im Kapitalismus notwendige Umverteilung von unten nach oben ein wenig verlangsamt und so die Illusion geschaffen, dass "alle" von diesem System profitieren.

Abgesehen davon, dass dies angesichts der weiterhin bestehenden Ausbeutung der Massen und dem Superreichtum einer ultrakleinen Minderheit schon blanker Unsinn ist, wird dieses Bild noch grotesker, wenn man den Blick erweitert und genauso gewissenhaft beobachtet, was damals außerhalb Britanniens und Europas geschehen ist und in unmittelbarem Zusammenhang zum dort neu durchstartenden Kapitalismus stand. Außerdem war es absehbar, dass eine unangetastet gebliebene und sich weiterhin bereichernde Finanz-"Elite" über kurz oder lang zum Gegenangriff übergehen und die im Text erwähnten Maßnahmen rückgängig machen würde, wie es dann ja dank der willigen HelferInnen Thatcher, Blair & Co. in England und Schmidt, Kohl, Schröder und Merkel und deren ErfüllungsgehilfInnen in Deutschland auch geschehen ist. Erste Ergebnisse dieser Zerstörungen kann man heute beispielsweise in Griechenland oder Spanien, aber natürlich auch bereits in England und Deutschland bewundern: Armut und Verelendung wachsen und erinnern nicht zufällig an die karge Untergangszeit der Weimarer Republik.

All das kommt im Text und vermutlich auch im Film nicht vor. Ich halte es für falsch - sogar für gefährlich -, wenn der "sozial gestaltete" Neustart des kapitalistischen Systems in solchen Beiträgen glorifiziert wird - so als könne man einen solchen Zustand für alle Zeit konservieren (abseits der Frage, ob das überhaupt erstrebenswert ist). Wer die unvermeidliche Entwicklung des Kapitalismus in Richtung einer immer reicher und möglichst auch kleiner werdenden Minderheit bei gleichzeitiger Verarmung aller anderen ignoriert und sich statt dessen auf die "goldene Anfangszeit" dieses zyklischen Entwicklungsprozesses konzentriert, wird dieselben Fehler immer und immer wieder machen und hilft letzlich dabei mit, den unablässigen Kreislauf des kapitalistischen Systems - vom Beginn bis zum Zusammenbruch und wieder von vorn - zu zementieren.

Wenn schon "Verstaatlichung der Schlüsselindustrien", dann bitte umfassend (also inklusive des Banken- und Versicherungskomplexes), unwiderruflich (also in der Verfassung verankert) und vor allem ausschließlich gemeinwohlorientiert. Das Zinssystem müsste abgeschafft werden, und Profitstreben dürfte in keiner Variation mehr irgendeine Rolle spielen - sowohl auf der unternehmerischen, als auch auf der staatlichen und der persönlichen Ebene. Und selbstverständlich müssten sämtliche absurden Vermögensanhäufungen sofort enteignet und ebenfalls dem Gemeinwohl zur Verfügung gestellt werden - kein einzelner Mensch auf diesem gruseligen Planeten braucht hunderte oder gar tausende von Millionen Euro/Dollar/Goldtaler, um ein anständiges, gutes Leben führen zu können.

Aus dem berühmten "Nie wieder Krieg" von 1945 ist heute längst ein "Immer wieder gerne Krieg - je öfter, desto besser" geworden, und die hohe Massenarbeitslosigkeit, die Wohnungsnot und das Massenelend halten längst wieder Einzug auch in die kapitalistischen Staaten. Wie kann man angesichts dieser bedrohlichen, sich wiederholenden Lage ernsthaft davon schwadronieren, dass am Anfang des kapitalistischen Zyklus' angeblich paradiesische Zustände geherrscht haben und man deshalb einfach dahin zurückkehren müsse? Das entspricht der Sinnhaftigkeit nach in etwa der Empfehlung an den Lungenkrebspatienten, er müsse doch bloß mit dem Rauchen aufhören, dann käme schon alles wieder ins Lot.

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Der Gold-Aberglaube


Das goldene Kalb hat sich im Lauf der Zeit zum Stier ausgewachsen, der die Weltwirtschaft auf die Hörner nimmt und alles zertrampelt.

(Zeichnung von Olaf Gulbransson [1873-1958], in "Simplicissimus", Heft 46 vom 16.02.1932)

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