Montag, 2. Februar 2015

Zeitzeugen sprechen über Auschwitz (4): Schnipsel des alltäglichen Horrors


Der folgende Text ist ein kurzer Auszug aus der Zeugenaussage des Journalisten und Holocaust-Überlebenden Emil de Martini, die im Rahmen des sogenannten 1. Frankfurter Auschwitzprozesses am 04.06.1964 dokumentiert wurde. Die komplette Aussage kann - ebenso wie unzählige weitere Zeugenaussagen - auf den Seiten des Fritz-Bauer-Instituts nachgelesen und auch im Original angehört werden.

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Denn normalerweise hätte der [Krankenblock] höchstens mit 600 Personen belegt sein können. Er war aber meist überbelegt, so dass wir vielleicht 1.800 bis 2.000 Personen in diesem Block mitunter hatten. Und dann kamen der Lagerarzt Doktor Entress mit dem SDG [SS-"Sanitätsgrad"] Klehr gemeinsam. Da mussten die Kranken dann aus den Betten heraus, ob sie nun gehen konnten oder nicht. Sie mussten an ihm vorbei. Und Doktor Entress nahm dann die Fieberkurven, die genau geführt wurden, mit Angabe aller Medikamente, die die Kranken natürlich nie bekommen haben, und legte diese Fieberblätter nach rechts oder links. Was er links legte, war dann bestimmt zur Vergasung oder zum "Abspritzen" [Ermorden], was rechts blieb, blieb weiter im Krankenbau.

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Die Regel war, wenn ein Kranker innerhalb von 14 Tagen nicht wieder arbeitsfähig ist und ins Lager entlassen werden kann, war er sowieso ein Todeskandidat. Er galt als unnötiger Esser. Und es kam sehr selten vor, dass ein Kranker – vor allen Dingen sehr schwer Fußkranker mit Phlegmonen und dergleichen Dingen behaftet – in 14 Tagen gesund werden konnte. Im normalen Zivilleben hätte man all die Kranken wieder heilen können. Dort war es unmöglich, weil es waren auch keine Medikamente da. Es wurde alles nur in Papier hineingeschrieben, was der Häftling bekommen hat, wie sorgfältig er gepflegt wurde im Krankenbau und so weiter. Aber die Hauptapotheke, die SS-Hauptapotheke, gab ja nichts heraus. Wir bekamen nur Papierbinden und gegen Ruhr zum Beispiel Bolus alba, also weiße Tonerde beziehungsweise Kohle. Und dann noch für Wunden Lebertransalbe. Das war alles. Sonst gab es ja nichts.

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Wenn eine Selektion stattgefunden hatte und die ausselektierten Kranken noch auf diesen großen Lkws zu den Gaskammern fuhren, dann arbeiteten schon die Schreibmaschinen im Krankenbau, und da wurden die Totenberichte geschrieben. Das wurde sehr genau gemacht für die Standesämter und so weiter. Und dann hieß es meinetwegen, also verstorben an Herz- und Kreislaufschwäche 00.01 Uhr, 00.02 Uhr und 00.03 Uhr und so weiter und so weiter. Je nachdem, wie stark der Transport war. Meistens waren es ja mehrere Hunderte oder vielleicht Tausende, die nach Birkenau transportiert wurden.

Aber eine wahre Todesursache wurde nie bekanntgegeben. Im Gegenteil, die Fieberkurven – soweit welche vorhanden waren, sonst wurden sie künstlich noch angefertigt –, die enthielten alle Medikamente, die ein Kranker nur überhaupt erhalten kann, um gesund zu werden. Und dann ging meistens auch noch ein Beileidsschreiben an die Angehörigen, soweit es sich um deutsche Staatsbürger gehandelt hat, dass trotz aufopfernder Pflege es nicht zu vermeiden war, dass der Betreffende an Herz- und Kreislaufschwäche verstorben ist. Diese dort angefertigten Papiere, das war die reinste Lüge, das war die reinste Urkundenfälschung, weil es nämlich nicht stimmte.

[...]

Es kamen 1942 einmal Jugendliche, Kinder, so vielleicht zwischen acht und vierzehn Jahren. Es waren Jungen. Die waren natürlich nicht fähig, in einem Arbeitskommando zu arbeiten, und die blieben im Lager in den einzelnen Blöcken und haben da die Fenster geputzt und irgend so leichte Arbeiten verrichtet beim Blockältesten. Und dann hieß es eines Tages, es ist unmoralisch, dass Kinder mit Männern gemeinsam schlafen. Also einen Block für Kinder gab es nicht, und um die Moral zu retten, nicht wahr, wurden diese Kinder "abgespritzt" [ermordet]. Da war die Moral gerettet im Lager Auschwitz.

[...]

Wir hatten einmal einen Kranken im Block 21, der nun noch ziemlich wiederhergestellt war, einigermaßen, und der wurde zu einer Vernehmung zur Politischen Abteilung bestellt. Am Abend kam er dann zurück, und im ganzen Gesicht war bis auf die Knochen das Fleisch abgeschmort. Er konnte nicht mehr sprechen, ist in der folgenden Nacht auch gestorben dann an Sepsis. Und hat dann nur noch sich verständigt – es war ein Pole –, [indem] er aufgeschrieben hat – das haben die anderen mir übersetzt –, dass er bei der Vernehmung in der Politischen Abteilung mit dem Gesicht in einen Koksofen – es gibt doch diese Koksöfen, womit man Wohnungen austrocknet bei Neubauten – hineingestoßen worden ist, weil er nicht das sagen konnte, was man von ihm erwartet hat.

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Ohne Hoffnung



(Gemälde von Frida Kahlo [1907-1954] aus dem Jahr 1945. Öl auf Leinwand, aufgebracht auf Masonit, Dolores-Olmedo-Stiftung, Mexiko-Stadt)

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