Samstag, 31. Januar 2015

Zeitzeugen sprechen über Auschwitz (3): Schnipsel des alltäglichen Horrors


Der folgende Text ist ein kurzer Auszug aus der Zeugenaussage des Schriftstellers und Holocaust-Überlebenden Hermann Langbein, die im Rahmen des sogenannten 1. Frankfurter Auschwitzprozesses am 06.03.1964 dokumentiert wurde. Die komplette Aussage kann - ebenso wie unzählige weitere Zeugenaussagen - auf den Seiten des Fritz-Bauer-Instituts nachgelesen und auch im Original angehört werden.

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Ich bin im August 1942, am 20. August, von Dachau nach Auschwitz überstellt worden. [...] / Damals, wenn ich mich richtig erinnere, waren es vor allem französische und holländische Judentransporte, die nach Auschwitz kamen; das sind die Leute, die nicht sofort bei der Ankunft vergast worden sind. Über die hatten wir keinerlei Karteikarten und keinerlei Unterlagen. Sondern das sind nur diejenigen, die an der Rampe ausgesucht wurden als arbeitsfähig und ins Lager eingewiesen wurden. Nur über die gab es Unterlagen in den Schreibstuben. Diese starben also in einer Geschwindigkeit, die für jeden, der das sehen musste, papiermäßig sehen musste auch nur, beklemmend war.

Dieser erste Eindruck hat – ich möchte fast sagen – gezeigt, wie relativ alle diese Begriffe sind, wie relativ zum Beispiel alles war, was ich in Dachau erlebt habe, wo ich nicht sehr viel Schönes erlebt habe. Aber Dachau wirkte aus der Perspektive von Auschwitz nahezu wie ein Idyll. Bitte, mich nicht misszuverstehen, dass in Dachau Verhältnisse waren, die idyllisch gewesen wären. Ein zweiter Unterschied, der sehr krass war im Verhältnis zu dem, was ich in Dachau erlebt habe, war die sogenannte Lagerhierarchie, die Lagerprominenz. Es ist bekannt – sicherlich auch hier schon –, dass die SS ein System entwickelt hat in den Konzentrationslagern, dass sie die Häftlinge gegeneinander ausspielte und untereinander Unterschiede machte.

[...]

Das war die Atmosphäre, die also sehr unterschiedlich in Auschwitz gegenüber Dachau war. Wir sind in der Nacht angekommen, wie es noch dunkel war, und mussten uns beim Tor aufstellen und warten, bis der Morgenappell abgehalten worden ist, und dann marschierten die Kommandos aus. Und wir sahen die Kommandos, die einen sehr unterschiedlichen Eindruck machten [im Vergleich] zu denen in Dachau, die auch keinen sehr erfreulichen Eindruck [machten]. Wir sahen Menschen, die dermaßen heruntergekommen waren körperlich, dass sie sich kaum auf den Füßen halten konnten. Und wir sahen Kapos, die sehr wohlgenährt waren.

[...]

Wenn ich noch eine Episode schildern darf, [...] weil sie auch für die Lageratmosphäre kennzeichnend war. [...] Das Fenster ging damals von meinem Krankenzimmer auf Block 28 hinaus zum Stacheldraht [...]. Und ich sah, dass mit furchtbarem Lärm eine ganze Gruppe von Häftlingen dort zwischen Stacheldraht und Block 28 in diesen schmalen Gang getrieben wurde. Eine Reihe von Kapos war dabei, und [die] SS hat diese ganze Aktion beaufsichtigt. Ich hörte: "Ausziehen! Ausziehen! Flott, flott!" Es war damals November, also eine kalte Jahreszeit. Die Leute mussten sich ausziehen, und es war schlimm zu sehen, offensichtlich wussten sie es, und wer wusste es nicht in Auschwitz, was das bedeutet.

Sie waren ausgesucht worden beim Ausmarschieren der Kommandos als arbeitsunfähig, weil sie schon schlecht gingen. Und ich sah es, und das vergesse ich auch nicht, sie haben sich dort ausgezogen, und wenn der SS-Mann sich umgedreht hat, hat er sich bemüht, sich schnell wieder ein bisschen anzuziehen, damit er das Ausziehen verzögern könnte. Dann waren sie nackt, dann wurde jedem die Häftlingsnummer mit Tintenstift auf die Brust geschrieben. [...]

Sie wurden dann hinaufgejagt auf den Gang vor meiner Tür. Dort standen sie, und scheinbar hat es mit der Anforderung der Lastwagen nicht geklappt. Wenn eine größere Zahl war, wurden sie immer ins Gas geschickt, kleinere Zahlen wurden [zu Tode] "gespritzt", und größere wurden immer vergast. Und sie haben natürlich kein Essen mehr bekommen, sie waren schon abgeschrieben von der SS. Sie haben kein Wasser mehr bekommen, man ließ niemanden raus, weil sie Angst hatten, die Leute werden sich irgendwo verstecken. Die einzige Möglichkeit, dass sie beim Klosett Wasser tranken, war gegeben. Die einen sind schon am Boden gelegen. Einzelne waren schon tot, einzelne lagen neben ihnen, ohne sich von den Toten wesentlich zu unterscheiden. Und spät am Abend, glaube ich, sind dann die Lastwagen gekommen und haben auch diesen Transport weggebracht. [Pause]

Das war das Klima, das in Auschwitz herrschte in dieser Zeit. Und das Klima, wenn man das nicht kennt und nicht versteht, kann man unmöglich sich vorstellen, wieso die einzelnen SS-Leute solche Dinge gemacht haben. Das Menschenleben galt nichts. Einen Menschen zu töten war eine Kleinigkeit, war überhaupt nicht der Rede wert. Und die Machtfülle, die ein SS-Mann, auch der kleinste SS-Mann, den Häftlingen gegenüber hatte, war unvorstellbar. Und aus dieser Machtfülle heraus und aus dieser Einstellung heraus: Diese Leute müssen ja sowieso sterben, die sind ja schon Tote auf Urlaub sozusagen, aus dieser Einstellung heraus habe ich mir nur erklären können das, was geschah [...].

[...]

Ich habe dann mir einen Krankenblock angeschaut, und zwar war das der Krankenblock, in dem auch die Frauen gelegen sind, die entbunden haben. Im Zigeunerlager kamen auch Kinder zur Welt. Ich habe viel gesehen in Auschwitz. Tote waren für uns eine Alltäglichkeit. Man ist furchtbar hart geworden in Auschwitz, so hart, dass man manchmal Angst gehabt hat, ob man wieder ins normale Leben zurückfindet. Aber was ich dort gesehen habe, das war schlimmer als alles andere. Ich habe Frauen gesehen, [Pause] die glücklichsten waren die – es waren einzelne darunter –, die wahnsinnig geworden sind. Ich habe kleine Kinder gesehen, Neugeborene; die einzige Sorge, die ihnen zuteil wurde, war die, dass sie sofort die Häftlingsnummer tätowiert bekamen mit einem "Z". Und zwar bekamen die die Häftlingsnummer in den Oberschenkel, weil der Unterarm eines Säuglings zu klein war dafür. Und ich habe dann die Leichenkammer gesehen, die anschließend hinten bei dem Block war, und dort war ein Berg von Leichen, Kinderleichen, und dazwischen waren die Ratten. [Pause]

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Geburt des Faschismus



(Gemälde von David Alfaro Siqueiros [1896-1974] aus dem Jahr 1936. Pyroxylin auf Masonit, Sala de Arte Publico Siqueiros, Mexiko)

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich kann nur hoffen, dass dies auch gelesen wird.
Gruß -
Volker

Charlie hat gesagt…

@ Volker: Zumindest die Zugriffszahlen auf die bisherigen drei Beiträge stimmen mich da zuversichtlich - entgegen meiner Erwartung sind die nämlich "exlodiert".

Bewirken wird diese Aufmerksamkeit aber natürlich dennoch nichts, da gebe ich mich keiner billigen Illusion hin.

Liebe Grüße!