Mittwoch, 28. Januar 2015

Night will fall: Ein Blick in die Hölle - und in den Spiegel




Anmerkung: Die unkommentierte und leider leicht gekürzte Rohfassung des dokumentarischen Filmfragmentes von Bernstein und Hitchcock, das in der obigen Doku ausführlich besprochen wird, kann beispielsweise hier angesehen werden: "Memory of the Camps".

Dazu ein ausnahmsweise einmal halbwegs erträglicher Kommentar aus den tagesthemen von Anja Reschke (NDR), den ich hier im Wortlaut dokumentiere, da die Videodatei ohnehin in Kürze wieder "depubliziert" wird:

"Auschwitz, Holocaust - ich kann's nicht mehr hören, es muss doch mal Schluss sein!" - Oh, diese Sätze hört man wieder oft zurzeit. Sie kommen immer dann, wenn das Gedenken wieder in den Vordergrund rückt. Die Mehrheit der Deutschen möchte die Geschichte der Judenverfolgung hinter sich lassen, sagt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. 58 Prozent wollen sogar einen Schlussstrich ziehen.

Ich habe gestern die Dokumentation über Kameraleute der alliierten Truppen gesehen, die gefilmt haben, als die Konzentrationslager befreit wurden, die kamen, als die Schornsteine der Krematorien noch rauchten, die über Berge von Leichen gestiegen sind; Bilder von Skeletten mit ein bisschen Haut darüber, offene Münder, verdrehte Gliedmaßen. Heute sind diese Kameraleute von damals Männer von über 90 Jahren. Als sie erzählt haben, haben sie angefangen zu weinen. Keiner von ihnen kann einen Schlussstrich ziehen, genauso wenig wie die Opfer, die überlebt haben. Es gibt nicht mehr viele von ihnen, aber noch sind sie da - und ihnen schmettern wir entgegen: "Es muss doch mal Schluss sein"? Ausgerechnet wir?

Es gibt keinen Schlussstrich in der Geschichte - in keiner. Klar, lieber erinnern wir uns an Karl den Großen, Bismarck oder die Wiedervereinigung. Aber Auschwitz ist nun mal passiert. Wieso sollten wir ausgerechnet das Kapitel der Judenverfolgung hinter uns lassen? Dieser Teil unserer Geschichte ist in seiner Abartigkeit so einzigartig, dass er gar nicht vergessen werden kann.

Ich bin "dritte Generation". Ich war nicht dabei, und trotzdem habe ich mich geschämt, als ich wieder diese Bilder gesehen habe. Weil es zu meiner Identität als Deutscher gehört, ob ich will oder nicht.

Nach diesem Film konnte ich nicht schlafen, also habe ich umgeschaltet. Und was sehe ich: Pegida-Demonstranten in Dresden, die sich aufregen über die vielen Ausländer in Deutschland. Ganz ehrlich - da ist mir dann wirklich schlecht geworden.

Auch wenn es Reschke im letzten Abschnitt noch schafft, einen kleinen Verweis auf unsere heutige furchtbare Zeit unterzubringen, verbleibt auch ihr Text im Übrigen im Sumpf der Geschichte und vermeidet es peinlichst, irgendwelche Rückschlüsse oder Querverweise auf die heutige menschenfeindliche, ausgrenzende Politik der neoliberalen Bande zu ziehen, die nicht weniger faschistoid ist als es der aufkeimende Nazi-Terror in seinem frühen Stadium war. "Pegida" ist nicht die Ursache, sondern eines von sehr vielen (durchaus pervertierten) Symptomen dieses radikalisierten Kapitalismus - an dem die Massenmedien, und ganz vorne mit dabei auch die "öffentlich-rechtlichen" Sender mit ihren Propagandaschauen, einen wesentlichen Anteil haben.

Es bleibt nur eine Randnotiz, dass natürlich auch hier wie selbstverständlich auf eine "Studie" der Bertelsmann-Stiftung Bezug genommen wird - so als handele es sich bei diesem kapitalistischen Lobbyverein einer Clique von Superreichen tatsächlich um eine seriöse, gar "unabhängige" Institution.

Der faschistische, menschenfeindliche Terror der Schikanierung, Drangsalierung und Ausgrenzung von Menschen, der damals dem systematischen Massenmord vorausging, war eben nicht einzigartig - wir erleben gerade hautnah, wie er schleichend (und unter tatkräftiger Mitwirkung auch der Bertelsmann-Stiftung) erneut begonnen wurde und zunehmend an Fahrt aufnimmt. Die Erinnerung an die beispiellosen Verbrechen der Nazibande wird aber hohl und sinnfrei, wenn sie zur reinen "Historienschau" verkommt und die offensichtlichen Parallelen zu unserer heutigen Zeit gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. Anders gesagt: Wenn Faschismus nicht in einem Atemzug mit Kapitalismus genannt wird, ist es gar nicht mehr möglich, den tatsächlichen Ursachen dieses Irrsinns auf die Spur zu kommen. Die oben verlinkte Doku über den "aus gewissen politischen Gründen" letztendlich nicht fertiggestellten Film zum Holocaust bietet im letzten Drittel dazu einige Denkanstöße, die ich bemerkenswert finde. Ebenso bemerkenswert ist es aber, dass Reschke, die sich in ihrem Kommentar ja explizit auf diese Doku bezieht, jene Denkanstöße entweder nicht bemerkt oder aber bewusst verschwiegen hat.

Der Holocaust ist nicht einfach ein "Teil unserer Geschichte" wie Karl der Große oder Bismarck - er ist das flammende, furchtbare Mahnmal der Zerstörung und Menschenfeindlichkeit, auf das der Kapitalismus zwangsweise stets zusteuert, und zwar überall auf der Welt und zu jeder Zeit.

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"Bedaure, ich bin im Verein gegen Bettelei!"

(Lithographie von Honoré Daumier [1808-1879] aus dem Jahr 1844, aus der Serie "Les philantropes du jour")

1 Kommentar:

altautonomer hat gesagt…

Sehr geehrte Frau Resche,
wie kann es sein, dass Ihnen als Bezug zu heutigen gesellschaftlichen Zuständen nur der Pöbel von Pegida einfällt?

Warum haben sie nicht den staatlich geführten NSU und die Rolle der Geheimdienste erwähnt, nicht die Tatsache, dass im neuen Jahrtausend überall wieder Nazis in die Kommunalparlamente einsickern, wo blieb Ihr Hinweis auf die seit 1990 von Neonazis über 130 Ermordeten? Und wie würden Sie es den wenigen Überlebenden und ihren Familienangehörigen erklären, dass in @de wieder der Hitlergruss in der Öffentlichkeit gezeigt wird, dass Hooligans in Fussballstadien singen "Wir bauen eine U-Bahn von hier bis nach Auschwitz", dass rechtsradikale Organisationen unter dem Label der Meinungsfreiheit ihre Parolen auf Märschen durch die Metropolen in die Öffentlichkeit grölen dürfen und diejenigen, die sich ihnen in den Weg stellen, von der Polizei brutalst weggeknüppelt werden?

Haben Sie Frau Resche das alles evtl. wieder mal nicht gewußt?

Grusslos