Freitag, 30. Januar 2015

Zeitzeugen sprechen über Auschwitz (2): Schnipsel des alltäglichen Horrors


Der folgende Text ist ein kurzer Auszug aus der Zeugenaussage des Arztes und Holocaust-Überlebenden Otto Wolken, die im Rahmen des sogenannten 1. Frankfurter Auschwitzprozesses am 24. und 27.02.1964 dokumentiert wurde. Die komplette Aussage kann - ebenso wie unzählige weitere Zeugenaussagen - auf den Seiten des Fritz-Bauer-Instituts nachgelesen und auch im Original angehört werden.

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Vielfach kam es auch vor, dass Häftlinge mit Furunkulose noch später gezüchtigt wurden, wobei die Furunkel durch die Stockhiebe gewaltsam aufgequetscht und der Eiter ins Gewebe hineingepresst wurde. Es kamen fürchterliche Gesäßphlegmonen zustande. Ich habe etliche solcher grauenhafter Fälle gesehen, wo sich das ganze Fleisch vom Gesäß bis auf die Hüftknochen in Eiter auflöste, und die Leute gingen unter den grässlichsten Qualen zugrunde. Denn das waren unrettbare Fälle, denen konnte nicht die größte medizinische Kunst mehr helfen. Es war nur immer ein Glück, wenn das Herz nicht stark genug war und das hohe Fieber der Sepsis ihnen einen raschen und frühen Tod bereitete.

[...]

Ich möchte nun auch hier über Doktor Helmersen eine Episode berichten. [...] Doktor Helmersen war Lagerarzt und einer derjenigen also, die bei uns im Lager die Selektionen vornahmen. Eines Tages, er hatte keine Zeit, er kam auf einen Sprung in die Ambulanz, fragte er: "Was gibt es Neues?" Und er gibt mir dann den Auftrag: "Also, Sie machen mir bis morgen eine Liste der Arbeitsunfähigen." [Pause] Ich war über den Auftrag sehr erschüttert, denn eine Liste der Arbeitsunfähigen machen, das hieß, ich sollte eine Selektion machen. Ich war nicht bereit dazu. Und ich suchte nach einem Weg, wie ich diesen Auftrag irgendwie abbiegen könnte. Nun, in jeder Baracke gab es ganz am äußersten Ende der Baracke eine Buchse. Dort lagen die Häftlinge, deren Auszehrung schon so hochgradig war, dass sie nicht mehr aus eigenen Kräften zur Latrine gehen konnten. Die lagen dort, ließen alles unter sich. Das waren Leute, die noch ein, zwei, vielleicht drei Tage zu leben hätten. Ein Zustand, der irreparabel, irreversibel war. Trotz aller Bemühungen mit den modernsten Mitteln wäre es nicht mehr möglich gewesen, diese Leute am Leben zu erhalten. Ich ging also von Block zu Block und schrieb da in diesen Buchsen die, die dort herumlagen, auf – ich weiß nicht, waren es 26, waren es 28, ich weiß es nicht mehr.

Am nächsten Tag kam Helmersen und verlangte von mir die Liste. Ich zückte ein Papier und gab ihm die Liste. Er sah sich es an. "Das ist alles? Mehr hast Du nicht gefunden?" Ich bekam zwei Faustschläge ins Gesicht. Er ließ Blocksperre machen und führte selber eine Selektion durch. [Pause] Ich kann heute aus der Erinnerung nicht mehr sagen, waren es 200, waren es 300, die er herausholte. Nachher kam er wieder zurück in die Ambulanz. Ich bekam noch einmal zwei Ohrfeigen. "Ich werde Dir helfen, Sabotage [zu] treiben. Du gehst ins SK, ins Strafkommando, dafür werde ich sorgen." Und er ging. Voller Angst wartete ich zwei Tage – nicht nur in Angst, sondern ich hatte mir bitterste Vorwürfe meiner Kameraden anzuhören: "Da hast du es, hättest du ihm wenigstens eine Liste von 50 gegeben. Jetzt sind 300 gegangen, das ist deine Schuld, dass so viele gegangen sind!" Ja, ich habe gesagt: "Ich kann nicht anders. Ich werde nie jemanden zum Tode befördern, ich kann es nicht."

[...]

Ich habe hier früher schon erwähnt – anlässlich der Selektionen –, dass die Ungarntransporte plötzlich eine Umwälzung im ganzen Betrieb mit sich brachten. Denn plötzlich funktionierte das "Reisebüro Eichmann" wieder, und es kamen Tag für Tag vier, fünf, sechs, manchen Tags sogar zehn Züge nach Auschwitz. Auf der Rampe war großer Betrieb. Es wurden Tausende und Abertausende Menschen täglich vergast. Die Krematorien reichten nicht mehr aus, das anfallende Leichenmaterial aufzuarbeiten. Es wurden riesige Gräben gegraben, und zusätzlich zu der Arbeit im Krematorium wurden noch Tausende Leichen in offener Grube verbrannt. Tag und Nacht loderte das Feuer, nachts war der Himmel weithin blutrot gefärbt. Und wenn der Wind schlecht stand, hatten wir im Lager den Gestank des verbrannten Fleisches. [Pause]

Das "Sonderkommando", dieses Kommando aus Häftlingen, das dazu bestellt war, die anfallenden Leichen zu verarbeiten, war zu schwach, es musste verstärkt werden. Es wurden daher vom Lagerarzt Doktor Thilo aus dem Transport Korfu-Athen-14 400 griechische Juden zur Verstärkung des "Sonderkommandos" eingeteilt. Sie weigerten sich, als sie an Ort und Stelle kamen, die Arbeit zu verrichten, und gingen als erste ins Gas. Und es wurden andere an ihre Stelle gesetzt.

Was war denn nun die Arbeit dieser Leute? Die Verwertung der Vergasten geschah so: Den Frauen wurden die Haare abgeschnitten, die wurden gesammelt für irgendwelche industriellen Zwecke. [Pause] Den Leichen wurde durch ein Team von sogenannten Zahnärzten der Goldzahnersatz aus dem Mund geholt und gesammelt – und das wurde sehr genau gemacht. Es gab eigene Formulare, da hieß es: "Aus der Leiche Nummer soundso." Also wenn es sich um einen aus dem Lagerstand handelt, der schon eine Nummer hatte, da wurde ein genaues Protokoll abgefasst, welcher Goldzahnersatz entfernt wurde. Dort im Krematorium – von den anfallenden Transporten, die keine Nummern hatten –, da ging das einfach so: Herausgerissen und in eine Kiste mit einem Schlitz hineingeworfen.

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Ohne Titel



(Gemälde von Nino Longobardi [*1953] aus dem Jahr 1986. Mischtechnik auf Leinwand, Galerie Bugdahn & Szeimies, Düsseldorf)

7 Kommentare:

altautonomer hat gesagt…

Immer wieder erschütternd, so etwas zu lesen odeer zu sehen.

Dazu deshalb nur ein paar Literaturtipps:

1. "Medizin ohne Menschlichkeit", Fred Mielke und Alexander Mitscherlich

2. "Das Urteil im Frankfurter Auschwitz-Prozess", Dokumentation, 622 Seiten, Hrsg. Balzer Renz, 2004

3. Dachauer Hefte Band 4, "Medizin im NS-Staat, Täter, Opfer, Handlanger", dtv 1993

4. "Deutsche Medizin im Dritten Reich – Karrieren vor und nach 1945" von Ernst Klee, 2001

MT hat gesagt…

Gäbe es die Zeugen und Beweise nicht, ich hätte NIE UND NIMMER gedacht, dass sich Menschen SO WAS ausdenken und praktizieren können. Wobei ja hier die ganz schlimme Drecksarbeit an die Häftlinge delegiert wurde. Ich habe mich recht viel mit dem Holocaust beschäftigt und kann es eigentlich immer noch nicht fassen, dass das alles passiert ist. Es gibt für mich hier absolut kein Begreifen, wie man solche Brutalitäten planen und ausführen kann.

Ruby hat gesagt…

Ich halte die Wiederholung dieser Greueltaten in der heutigen Zeit durchaus für möglich. Man muss nur lange genug den Hass gegen bestimmte Gruppen in der Bevölkerung schüren und sie letztendlich kriminalisieren und schon bekommt man die Zustimmung der Mehrheit. Ist ja auch kein großer Unterschied zur Todesstrafe, die ja auch sehr viele begrüßen würden.

Und wird solch ein Verbrechen dann auch gesetzlich legitimiert, begründet jeder "gute deutsche Bürger" sein Handeln mit Pflichterfüllung.

Es ist einfach nur zum Verzweifeln.

Charlie hat gesagt…

@ MT & Ruby: Ich habe mich nun auch schon viele Jahre lang sehr intensiv mit diesem furchtbaren Thema beschäftigt, und noch immer erlebe ich, wie es mir regelmäßig die Kehle zuschnürt und ich einfach nichts Sinnvolles dazu zu sagen weiß.

Was mir aber immer deutlicher und offensichtlicher wird, je länger ich mich mit diesen Geschehnissen beschäftige, ist der zwingende und unleugbare Zusammenhang dieser grausamen, faschistischen Eskalation mit dem System des Kapitalismus. Ich weiß freilich, dass das ein alter Hut ist, über den schon viele (vom Mainstream natürlich nicht zur Kenntnis genommene) Bücher geschrieben wurden - es ist aber dennoch etwas anderes, diese Erkenntnisse allmählich selbst nachvollziehen und anhand verschiedenster Beispiele direkt verstehen zu können. So ergibt auch das "Delegieren" der schlimmsten Drecksarbeit an Häftlinge einen perversen, "effizienten" Sinn.

Ich war jahrelang der felsenfesten Überzeugung, derartige Gräueltaten könnten sich im "zivilisierten" Teil der Welt niemals wiederholen - heute allerdings bin ich schlauer, sowohl was den angeblich "zivilisierten" Teil der Welt betrifft und auf wessen Kosten er sich die angebliche "Zivilisation" permanent ergaunert, als auch bezüglich der Grausamkeiten, die von eben dieser "zivilisierten" Welt beispielsweise in Form von Kriegen, Foltergefängnissen, Massenüberwachungen und heimtückischen Drohnenmorden global exportiert werden.

Ich will - wohlgemerkt - damit keineswegs den Horror des Holocaust irgendwie gleichsetzen mit der heutigen verdorbenen Zeit - Faschismus beginnt aber weit vor Auschwitz und ist auch heute das tragende, weil systemimmanente Element des westlichen Kapitalismus. Auschwitz war der "logische" Schlusspunkt dieses menschenfeindlichen Katastrophensystems. Und da dieses System nach wie vor von allen (!) relevanten Seiten öffentlich wie von Sinnen und vollkommen alternativlos propagiert und praktiziert wird, ist auch ein neuer Holocaust nicht ausgeschlossen.

Dasselbe gilt natürlich für den - von "elitärer" Seite dringlich herbeigesehnten - Krieg.

Je mehr man sich mit dem Holocaust beschäftigt, desto stärker muss man zu der Überzeugung gelangen, dass es der Kapitalismus mit seinen widerwärtigen Prinzipien und Folgen ist, den es zu bekämpfen gilt - die Superreichen müssen enteignet, das Geldsystem vollkommen neu konzipiert und die widerliche Hierarchie dieser perversen Welt aufgebrochen werden, damit endlich alle Menschen gleichermaßen am eigentlich überbordenden Reichtum dieses Planeten partizipieren können - und nicht mehr nur eine kleine Clique irgendwelcher "Herrenmenschen" oder sich sonstwie elitär Abgrenzenden.

Von einer solchen Vision - vielleicht sollte ich das besser Utopie nennen - ist dieser verkommene, untergehende Planet heute weiter entfernt als jemals zuvor, und zwar einschließlich der Steinzeit.

Liebe Grüße!

altautonomer hat gesagt…

Charlie: Vergleichen ist doch erlaubt, weil nur so Diffferenzen deutlich werden, nur gleichsetzen geht absolut nicht. Beispielhaft ist auch wieder die heutige schweigende Mehrheit. Schweigen heißt Zustimmung. Und vom Protest zum Widerstand sind wir noch weit enternt.

Ein Staat der unter dem falsch verstandenen Label von Meinungsfreiheit immer wieder paramilitärisch ausgerüstete Hundertschaften losschickt, um Neonazis den Weg freizuknüppeln, hat aus der Geschichte aber auch gar nichts gelernt.

http://www.jungewelt.de/2015/01-31/068.php

Charlie hat gesagt…

@ altauto: Aber genau das schrieb ich doch oben auch: "Ich will - wohlgemerkt - damit keineswegs den Horror des Holocaust irgendwie gleichsetzen mit der heutigen verdorbenen Zeit (...)" - und habe sodann einen nach meiner Auffassung durchaus legitimen, sogar überaus wichtigen Vergleich angeregt.

Was die Meinungsfreiheit betrifft, kann ich Dir aber nicht recht folgen - in diesem Bereich hat ein tatsächlich demokratischer Staat, so es ihn denn gäbe, nichts verloren - auch dann nicht, wenn es sich um offensichtlich widerliche, nach geltenden Rechten aber immer noch "legale" Meinungen handelt. Das ist oft genug eine wenig erfreuliche Gratwanderung, ich weiß - ich tendiere aber trotzdem dazu, im Zweifel solchen im Trüben fischenden Meinungsbekundungen lieber durch Informationen, Argumente und Aufklärung zu begegnen und nicht mit (gar staatlich verordeneten) Verboten. Gerade bei jungen Menschen, die bei solchen Nazi-Aufmärschen gerne aus unterschiedlichsten Gründen mitlaufen, wäre beispielsweise eine entsprechend fundiert ausgestaltete Sozialarbeit wesentlich sinnvoller als jedes staatliche Verbot - und leider auch als jede "bürgerliche", vom Mainstream in dieser hässlichen Zeit stets für kapitalistische Trennungsinteressen instrumentalisierte Gegendemonstration.

Gerade diese wichtige Sozialarbeit wird staatlicherseits aber nicht nur nicht gefördert, sondern seit Jahren in erheblichem Maße fortschreitend beschnitten. Gleichzeitig werden Nazi-Aufmärsche immer wieder als "Beleg" für die "Meinungsfreiheit" in den propagandistischen Medienring geworfen - während andere Demos, beispielsweise jene anlässlich der kapitalistischen "G-8"-Ausbeutertreffen, regelmäßig von paramilitärischen Polizeimilizen niedergeknüppelt werden.

In diesem verkommenen, menschenfeindlichen, offenkundig faschistoiden System nach "staatlichen Verboten" für missliebige Meinungen zu rufen, ist nach meinem Dafürhalten gleichbedeutend mit dem altbekannten Pakt des Doktor Faustus mit Mephisto: Das kann nur - und gewiss blutig - nach hinten losgehen.

Dieses grauenvolle System muss weg - erst danach ist es sinnvoll, über eventuelle Maßnahmen gegen weitere undemokratische, menschenfeindliche Tendenzen nachzudenken und zu diskutieren.

Von alledem sind wir aber ohnehin so elendig weit entfernt, dass es weitaus wahrscheinlicher ist, in Bälde eine von Union, Grünen, AfD, FDP und SPD abgesegnete Neufassung der "Endlösung" und/oder des "totalen Krieges" erleben zu müssen.

Umso wichtiger sind heute Aufklärung und Information - und zwar gerade auch abseits des wissenschaftlichen (leider recht einsamen) Diskurses. Wenn den heute lebenden Menschen niemand mehr erzählt, dass Faschismus und Kapitalismus nicht nur diffus "zusammenhängen", sondern zwei Seiten derselben Medaille sind und sich gegenseitig implizieren, werden sie es wohl nicht schnell genug selbst herausfinden.

Liebe Grüße!

jakebaby hat gesagt…

Was Aufklärung und Information angeht, ein zum Thema, wie zumeist, exzellenter Beitrag vom Volker: http://www.0815-info.com/News-file-article-sid-11511.html

Ich weis, nichts Neues fuer dich und ein paar wenige Andere ... und um beim diesbezueglichen Problem der verschleiernden Ablenkungsindoktrinierungen aus PolitikPresseKapitalReligion zu verbleiben, gibts nunmal keine Knoepfe am TV/etc., ueber welche Mensch sich 24/7 die wirklichwahrheitlich relevanten Gruende fuer sein beschissenes Dasein empoeren/aufbegehren koennte.

Gaebe es ab heute solch (piratische) Sender, welche in jeglichster Hinsicht rein faktisch und unpolemisch den Menschen (interessiert'oder auch nicht) bittersuessen Wein einschenkte, waeren wohl heute auch diverse Drohnen/etc. unterwegs, um diesen Frevel am steinzeitlichen Status Quo zu eliminieren. ES darf nicht wissen was Ist. ...