Montag, 31. August 2015

"Vergesst uns nicht, erzählt es weiter": Die letzten Zeugen


Als bekennender und überzeugter TV-Boykotteur habe ich aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun, die Nacht vom vergangenen Samstag auf den Sonntag dennoch vor einer Flimmerkiste verbringen müssen und bin dabei auf 3sat unfreiwilliger, zufälliger Zuschauer eines Bühnenprojektes des Burgtheaters Wien geworden, von dem ich, obwohl es bereits im Oktober 2013 erstaufgeführt wurde, bislang nichts gehört hatte. Momentan ist diese Aufzeichnung noch in der Mediathek des Senders abrufbar - wer sich das ansehen möchte (und das lege ich wahrlich jedem Menschen nahe), sollte das also tunlichst sehr bald tun, da in Kürze - wie gewohnt - die kapitalistisch motivierte Depublizierung droht.

Das Video findet Ihr zurzeit hier oder alternativ bei youtube:



Es handelt sich um ein Projekt, in dem sieben recht unterschiedlichen Zeitzeugen aus den finsteren Jahren zwischen 1933 und 1945 eine Bühne geboten wird, um ihre jeweilige persönliche Geschichte des grauenhaften Leids und glücklichen, meist zufälligen Überlebens zu dokumentieren. Dies geschieht - trotz der Anwesenheit von noch sechs dieser Personen, die zur Zeit der Aufführung noch lebten - durch Schauspieler, die jene Berichte ausschnitthaft und abwechselnd - am Redepult stehend und manches Mal um Fassung ringend - vortragen. Unterbrochen werden diese himmelschreienden, teilweise unkommentierbaren Berichte aus der tiefsten Hölle, von denen mir viele trotz meiner jahrelangen Beschäftigung mit diesem Thema bislang unbekannt waren, von Auftritten der hochbetagten Überlebenden, die mit persönlichen Botschaften ans Publikum ihre Motivation zur Teilnahme an diesem Projekt erklären.

Dies waren die härtesten und unerträglichsten 133 Minuten, an die ich mich in meiner jüngeren Vergangenheit erinnern kann. Wer sich das nicht anschaut, verpasst eine zwar tränenvolle, aber auch unermesslich erkenntnisreiche Gelegenheit, die Zeit des Nazi-Terrors zumindest in Ansätzen nachempfinden zu können und die notwendigen Rückschlüsse für unsere heutige Zeit, die auch in diesem Projekt thematisiert werden, zu ziehen. Einer der Überlebenden, Ari Rath aus Wien, sagt am Schluss der Aufzeichnung deutliche, wichtige Worte dazu (Minute 127:46):

Es hat bis 2012 gedauert, bis auch Österreichs Regierung des Bundeskanzlers Faymann den 8. Mai 1945 als "Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus" anerkannt hat. Ich bin mir schon viele Jahre der Tatsache bewusst, dass es bei den Österreichern nicht viel Reue über ihre aktive Teilnahme an den Nazi-Verbrechen gab. Obwohl zwei Drittel der österreichischen Juden noch rechtzeitig fliehen konnten und den Holocaust überlebt haben, war der Anteil der Juden, die nach Österreich zurückkehren durften, nur minimal. Es dauerte noch über 40 Jahre, bis als Folge der Waldheim-Affäre Österreich begonnen hat, sich mit seiner Nazi-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Verbrechen, die während der Nazi-Zeit begangen wurden, waren grausam und unmenschlich. Doch eines kann ich bis heute nicht begreifen: Dass man bis zum letzten Ende Juden ermordet hat, obwohl schon alles verloren war. Bei seinem Staatsbesuch in Jerusalem 1993 hat Bundeskanzler Franz Vranitzky im Gedenkbuch der Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem den folgenden Satz eingetragen: "Die Gefahr ist noch nicht gebannt - wir müssen wachsam sein." - Dieser Satz stimmt leider noch heute - mehr als je zuvor.

Schaut euch das an. Hört aufmerksam zu, auch wenn es sehr, sehr weh tut. Und glaubt insbesondere keinem Politiker, der salbungsvolle Sätze in Gedenkbücher schreibt oder in Mikrophone absondert, ohne entsprechende und unmissverständliche Taten unverzüglich folgen zu lassen - und das gilt gewiss nicht bloß für Österreich. Wenn gerade ein Überlebender des Nazi-Terrors befindet, dass die Wachsamkeit heute "mehr als je zuvor" geboten sei, spricht das angesichts der grauenhaften, beispiellosen Ereignisse, von denen in diesem außergewöhnlichen Theaterprojekt berichtet wird, mehr als nur Bände.

Faschismus, Rassismus und Menschenfeindlichkit stehen nicht mehr vor unseren Türen, sondern sitzen längst auf unseren Wohnzimmersofas und machen es sich inmitten der verrohten, ausgebeuteten, verarmten und ohnmächtigen Gesellschaft wieder gemütlich. Die nächste, wiederholte Runde des kapitalistischen Ablenkungsterrors mit den immer gleichen, nie benannten Ursachen beginnt spätestens heute.

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Ein Zeitkind


"Lasst mich aus mit Idealismus, Ehrlichkeit und so weiter. Die jetzige Zeit verlangt Politiker."

(Zeichnung von Rudolf Grieß [1863-1949], in "Simplicissimus", Heft 49 vom 04.03.1919)

2 Kommentare:

Harri hat gesagt…

Die Aufzeichnung wurde auch bei Youtube hochgeladen, da bleibt sie hoffentlich länger als in der Mediathek.

https://www.youtube.com/watch?v=ju_NuLh2CF4

Charlie hat gesagt…

@ Harri: Danke für die Ergänzung. Als ich den Text geschrieben habe, war meine Suche bei youtube noch erfolglos. Ich habe das Video nun in den Text eingebunden.