Mittwoch, 23. August 2017

Zitat des Tages: Steht noch dahin


Ob wir davonkommen ohne gefoltert zu werden, ob wir eines natürlichen Todes sterben, ob wir nicht wieder hungern, die Abfalleimer nach Kartoffelschalen durchsuchen, ob wir getrieben werden in Rudeln, wir haben's gesehen. Ob wir nicht noch die Zellenklopfsprache lernen, den Nächsten belauern, vom Nächsten belauert werden, und bei dem Wort Freiheit weinen müssen. Ob wir uns fortstehlen rechtzeitig auf ein weißes Bett oder zugrundegehen am hundertfachen Atomblitz, ob wir es fertigbringen mit einer Hoffnung zu sterben, steht noch dahin, steht alles noch dahin.

(Marie Luise Kaschnitz [1901-1974]: "Steht noch dahin. Neue Prosa", Suhrkamp 1970)



Anmerkung: 47 Jahre nach der Erstveröffentlichung ist dieser Text – und nebenbei das gesamte, sehr empfehlenswerte Büchlein – so aktuell wie nie zuvor. Eine solche perverse Erfolgsgeschichte des kontinuierlichen, konsequenten Unterganges kann wohl nur der Kapitalismus schreiben.

3 Kommentare:

altautonomer hat gesagt…

"Nur eine Menschheit, der der Tod so gleichgültig geworden ist wie ihre Mitglieder:
eine, die sich selber starb, kann ihn administrativ über Ungezählte verhängen."
Theodor W. Adorno, Minima Moralia, „Abdeckerei“ (1951)

Grafitty:
Tod ist kein Beweis für Leben.

Troptard hat gesagt…

"Eine solche perverse Erfolgsgeschichte des kontinuierlichen, konsequenten Unterganges kann wohl nur der Kapitalismus schreiben." (Charlie)

Ein paar unsortierte Gedanken dazu:

Und ist es nicht erstaunlich, dass wahrscheinlich eine grosse Mehrheit in den westlichen, kapitalistischen Ländern davon wahrscheinlich eben nichts hören will.

Lässt sich das deshalb genau in einer gesellschaftlichen Phase neu auflegen, in welcher den Ureinwohnern der kapitalistischen Gesellschaften danach dürstet, genau davon nichts zur Kenntnis nehmen zu wollen?

Eigentlich sollten die alltäglichen Erfolgsnachrichten in den Medien bereits genug Anlass sein, sich mal an den Kopf zu kratzen und sich seines eigenen Verstandes zu bemühen. Wahrscheinlich braucht es mehr, bietet aber auch keine Garantie.

Wenn man(n) so seine Jahre auf dem Buckel hat, und ihm auch heute noch, nur mit besserem marketing, das auf dem Teller serviert wird , was schon vor dreissig Jahren alles so zukunftsträchtig versprochen wurde, dann lehnt man sich doch gelassen zurück und sagt zu sich selbst, "mich könnt ihr nicht mehr verarschen."

"Steht noch dahin" Sehr beeindruckend und auch für mich, dessen Lebenzeit absehbar ist, sehr beängstigend. Und meine Tochter? Ich werde ihr nicht mehr beistehen können.





Charlie hat gesagt…

@ Troptard: Es ist ja nicht so, dass die Aufarbeitung des kapitalistischen Unterganges, der seinerzeit in der größtmöglichen vorstellbaren Katastrophe des Faschismus sein vorläufiges, höllisches Ende fand, jemals irgendwelche Bevölkerungsmehrheiten jenseits des akademischen Elfenbeinturms interessiert hätte. Da geht seit 1945 alles seinen gewohnten, irrsinnigen Gang, der zwangsläufig zu der menschenfeindlichen Farce führen musste, die wir heute erleben.

An die Zukunft meiner Töchter möchte ich indes gar nicht denken. Wenn man mich einmal auf dem "Gottesacker" verscharrt, stecken die beiden längst bis zum Hals in der braunen Jauchegrube - und daran kann ich ums Verrecken nichts ändern. Ich kann nur hoffen, dass ich ihnen genug humanistische Ideale und Gedanken mitgegeben habe, die sie davor bewahren, zu ebensolchen Zombies zu werden. Ich bin da nicht sehr zuversichtlich.

Liebe Grüße!