Donnerstag, 12. August 2010

USA: Wenn Menschen nur noch Müll sind

Nick Flynn hat seinen verschollen geglaubten Vater durch Zufall in einem Obdachlosenasyl in Boston wiedergefunden. Ein Gespräch mit dem US-Schriftsteller über einen persönlichen Schock, die Verrohung seiner Landsleute und die schmutzigen Praktiken der CIA. (...)

FR: Mr. Flynn, Ihren Durchbruch feierten Sie mit "Bullshit Nights". Das Buch erzählt davon, wie Sie im Obdachlosenheim Ihrer Heimatstadt Boston plötzlich ihrem verschollen geglaubten Vater gegenüber standen. Wie hat Sie das Zusammensein mit Obdachlosen verändert?

Flynn: Diese Zeit prägt mich bis heute. Ich erlebte diese Parallelwelt, die Amerika verbissen verdrängt. Das kam alles näher an mich heran, als ich wollte. Als Vorstand mussten wir zum Beispiel Hausverbote aussprechen, wenn jemand aggressiv war oder im Heim klaute. Im Winter konnte das ein Todesurteil sein. (...)

FR: Aber ist das nicht typisch für alle Millionen-Metropolen?

Flynn: Aber in unseren Städten war es nicht immer so. Ich kann mich noch daran erinnern, dass der Umgang mit Obdachlosen vor 30, 40 Jahren ganz anders war. Als ich Kind war, stieg niemand ungerührt über Obdachlose hinweg, die auf dem Bordstein lagen. Aber als ich 1984 begann, mit Obdachlosen zu arbeiten, war das etwa die Zeit, als Obdachlosigkeit zum Massenphänomen wurde. Wegen Ronald Reagans Wirtschaftspolitik mit starker Umverteilung von unten nach oben, mit Kürzungen von Sozialhilfe und Deregulierung der Wirtschaft. Die Wirtschaft kam in Schwung, aber gleichzeitig waren da über Nacht Massen von Obdachlosen auf den Straßen. Das hätten wir als Nation noch zehn Jahre vorher nicht akzeptiert. Damals setzte die Wende ein: Wir akzeptierten das Inakzeptable.

(Weiterlesen)

Anmerkung: Wie lange wird es wohl in Deutschland dauern, bis Obdachlosigkeit als "Massenphänomen akzeptiert" wird? Schon heute kann man ja immer wieder miterleben, wie diesem Schicksal ("Der ist bestimmt selber schuld!!") mit Teilnahmslosigkeit oder sogar Aggression begegnet wird. Dabei ist es heute leichter als jemals seit 1945, dieses Schicksal zu teilen - Hartz IV hat's möglich gemacht. Und das ist - wie allein schon der Blick nach Amerika zeigt, wo all diese neoliberalen Konzepte ja abgeguckt wurden - kein "Versehen", kein "Zufall", sondern ein konzeptimmanentes Ergebnis.

Und sie sind noch lange nicht fertig damit. Die Zwangsarbeitspläne von der Leyens legen ein Zeugnis darüber ab, und es wird gewiss auch in Deutschland nicht mehr lange dauern, bis die ersten Rufe laut werden, die (an übelste Auflagen gebundene) Sozialhilfe für Menschen (wie in einigen US-Staaten, z.B. Wisconsin üblich) generell auf fünf Jahre zu begrenzen. Was danach mit diesen Menschen geschieht, interessiert den Staat nicht mehr. Immerhin tauchen sie dann auch in keiner Statistik mehr auf - die offiziellen Arbeitslosenzahlen würden also stark zurückgehen.

Einmal mehr muss ich auf diesen alten Telepolis-Bericht aus dem Jahr 2002 verweisen, in dem genau dies angekündigt wird: Roland Koch schaut sich das Zwangsarbeits- und Drangsalierungskonzept in Wisconsin (USA) an und will es in Deutschland einführen - was er ja auch geschafft hat (den Bericht bitte lesen). Daraus geht hervor, dass der "Erfolg" dieses Konzeptes vor allem darin besteht, dass Menschen in großem Stil aus dem Leistungsbezug in die Kriminalität und/oder Obdachlosigkeit gedrängt wurden.

Das war und ist den Herren Schröder, Fischer, Müntefering, Koch und all den anderen Apologeten der "Agenda 2010" bekannt - inzwischen sitzen sie größtenteils auf hochdotierten Wirtschaftsposten und lachen sich einmal mehr ins Fäustchen, das Volk so an der Nase herumgeführt und an und in den Abgrund gedrängt zu haben, während ihre Bankkonten immer fetter werden.

"Wenn Menschen nur noch Müll sind" - das interessiert diese Bande nicht. Das ist Faschismus in seiner reinsten Form. Und die Nachfolger stehen ihnen in nichts nach und machen immer weiter - das Ziel ist schließlich nah.

12 Kommentare:

Mrs. Mop hat gesagt…

"Wir akzeptieren das Inakzeptable", vier Worte, die das Grauen ausdrücken, welches den Weg ebnet in finstere, vergangen geglaubte Zeiten.

Ich hatte das Interview in der FR gelesen und habe auf amerikanischen Blogs die explosionsartige Entwicklung von Zeltstädten verfolgt. Man sollte denken, dass dieser Zerfall an Zivilisation eine flächendeckende Schockwirkung hat. Hat es aber nicht. Und darin, exakt darin, lässt sich die rapide zerfallende Zivilisation in vollem Umfang ablesen.

Mrs. Mop hat gesagt…

...'daran' natürlich, nicht 'darin'. Ah - Morgenstund' hat Fehlleistung im Mund...;)

Charlie hat gesagt…

Solange es nur eine morgendliche Fehlleistung und keine generelle "Minderleistung" ist, bist Du in neoliberalen Augen ja sofort rehabilitiert. *gg*

Ansonsten kann ich zu Deiner Bemerkung nur schreiben: So ist es. Wenn die wachsenden Zeltstädte in den USA keinen Flächenbrand auslösen, werden auch hierzulande steigende Obdachlosenzahlen nur eines bewirken: Eine weiter zunehmende Stigmatisierung und Ausgrenzung dieser Menschen, die an ihrem Unglück ja "selbst schuld" seien. Man kann das dann auf alle beliebigen Bereiche ausdehnen - der Sportler, der sich verletzt, ist "selbst schuld" (und muss selber zahlen), der Raucher sowieso - aber nicht gelten wird das natürlich für Konzerne wie aktuell BP oder auch die Automobilhersteller, deren Produkte ebenfalls krebserregende Stoffe in die Luft pusten.

Es ist doch alles so offensichtlich ... ich verstehe einfach nicht, dass dieses Tollhaus einfach weiter existiert, ohne dass die Menschen sich massenweise an die Stirn tippen. Oder tun sie das - aber nur noch "privat"?

Mrs. Mop hat gesagt…

Privat tun sie es, das kann ich dir aus meinem Umfeld versichern - allerdings und witzigerweise nur in meinem Unterschichtsumfeld, nicht jedoch in meinem (allmählich ausdünnenden) Mittelschichtsumfeld. Letztere scheinen derart verscheuklappt mit Sichklammern an die noch existierenden Strohhalme (Jobs, Einkommen, 2xUrlaub im Jahr u.ä.)) beschäftigt zu sein, dass sie alles andere ausblenden. Und nie habe ich den Abgrenzungswahn nach unten so stark erlebt wie in diesen Zeiten. Dabei trennt sie nur ein hauchdünnes Blatt und 24 Monate von Hartz IV.

Hingegen sind die Prekarier aus meiner näheren Umgebung (Lieferanten, Putzkollegen, Postboten, Handwerker, Müllmänner u.ä.) durchaus nicht nur mit dem Finger an der Stirn, sondern mit der Faust auf dem Tisch dabei. Aber eben: privat. Auf der Ebene des Gesprächs beim Kaffee, zwischen zwei rollenden Bierfässern, während einer Zigarettenpause. Was die wählen - wenn sie denn wählen gehen -, weiß ich nicht. Bei manchen möchte ich es auch lieber nicht wissen ;).

Charlie hat gesagt…

Es ist erschreckend, aber diese Tendenz zu Scheuklappen bei Noch-Mittelschichtlern glaube ich auch festzustellen - zwar mit Ausnahmen, aber die sind relativ rar gesät. Das macht auch vor der eigenen Familie nicht halt. - Paradox finde ich dabei aber vor allem, dass viel ja sehr genau bemerken, dass ihnen Hartz IV weitaus schneller droht als sie es jemals für möglich gehalten haben - und trotzdem diese Abrenzungen und teilweisen Schuldzuweisungen an die "Sozialschmarotzer" vornehmen. Das erschließt sich mir rational nicht.

Genauso verhält es sich auch bezüglich der "Privatisierung" des Protestes. Denn dass es niemandem nützt, wenn man sich ständig an die Stirn tippt oder mit der Faust auf den Tisch haut, muss ja nun jedem klar sein. Diese Situation schreit ja geradezu danach, dass irgendein neuer Rattenfänger des Weges kommt und all diesen Missmut für seine Ziele instrumentalisiert. Wieso bloß gelingt es der Linken nicht, diesen Menschen klarzumachen, dass sie deren Interessen vertreten möchte? (Ob sie das wirklich tut bzw. im Fall der Mehrheit auch wirklich täte, steht auf einem anderen Blatt) - Ist die Medienpropaganda schon zu perfekt?

Sprichst Du in Deinem Umfeld (ich meine ausdrücklich beide "Bereiche") über Politik? Oder bekommst Du die genannten Befunde eher so nebenbei mit?

Mrs. Mop hat gesagt…

"Paradox finde ich dabei aber vor allem, dass viele ja sehr genau bemerken, dass ihnen Hartz IV weitaus schneller droht als sie es jemals für möglich gehalten haben - und trotzdem diese Abrenzungen und teilweisen Schuldzuweisungen an die "Sozialschmarotzer" vornehmen. Das erschließt sich mir rational nicht." Hey, ist klar - ist ja auch ein komplett irrationaler Verleugnungsvorgang.

Wenn ich mal ganz ehrlich bin und Rückschau auf mein vergangenes (Berufs)Leben halte: Selbst als bei mir die Auftragstalfahrt schon längst begonnen hatte und ich sehenden Auges dem Abgrund zusteuerte, habe ich mir noch augenwischend gesagt, das sei nichts weiter als eine der mir bereits bekannten konjunkturellen Dellen. Kennt man ja als 'Freier', diese temporären Durchhänger. Ich wollte es damals partout nicht wahrhaben. Ich WOLLTE es einfach nicht. Verleugnung pur war das.

Solch irrationales Augenverschließen vor dem, was da auf einen zurollt (bzw. dem Tsunami, in dem ich bereits voll drin steckte), erzeugt wahnsinnige Reibungsverluste. Aus der Rückschau erkenne ich, dass mich das ungeheuer viel Energie gekostet hat. Kostbare Energie, die mir an anderer (egal welcher) Stelle natürlich gefehlt hat. Wenn du Opfer deiner eigenen Realitätsverleugnung wirst, kannst du alles andere auch nicht mehr klar erkennen und benennen - schon gar keine politischen Realitäten, so desaströs sie auch sein mögen bzw. sich damals schon abzeichneten.

Deine Gedanken zu dem "neuen Rattenfänger" lassen mich tief seufzen. Da ist was dran. Das Irre (im Wortsinne!) ist, dass die Stirntipper und Fausthauer zum Teil absolut identisch argumentieren, was die Problemlagen angeht; aber wenn es denn mal zu (partei)politischen Schlussfolgerungen kommt, tendiert die Mehrheit eindeutig zu nationalkonservativem/rechtsaußenem (tschuldigung!) Gedankengut und nur ganz wenige nach links.

Das war jetzt die U-Schicht. Die M-Schicht wählt und labert großteils Grün. Besitzstandswahrung halt mit Öko-Touch, zum Teils übrigens voll auf dem Gentrifizierungs-Trip. FDP mit Dosenpfand, wie Volker Pispers die Grünen sehr treffend eintütete.

Mrs. Mop hat gesagt…

Mal was Technisches:

Ich kriege jedes Mal schier den Herzkasper, wenn ich meine ellenlangen Kommentarbretter abschicken möchte und dein System mir einen Komplett-Error anzeigt, weil "Volume too large" oder so. Da geht dann auch nichts mehr zu Klicken und zu Bewegen oder zu Halbieren - alles liegt vor mir wie tot. Ich auch (fast). :)

Lade ich dann deine Seite komplett neu, steht der Kommentar wie von Geisterhand da. Grade eben schon wieder, *uff*

Charlie hat gesagt…

Solche Phasen aus meinem vergangenen Berufsleben kenne ich auch - aber ich weiß auch noch, dass ich damals, als Schröder vollmundig von der "alternativlosen Zusammmenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe" schwadronierte (die nichts anderes als die Abschaffung der jahrhundertelang erkämpften Arbeitslosenhilfe bedeutete), extreme Bauchschmerzen bekam - und das in einer Zeit, als ich in einem scheinbar sicheren Arbeitsverhältnis zu den Besserverdienenden gehörte. Getan habe ich indes damals auch nichts. Dafür könnte ich mich noch heute stundenlang ohrfeigen. Denn erkannt hatte ich die schlimmen Ideen schon damals - ich habe es nur nicht für möglich gehalten, dass sie sich wirklich durchsetzen (zumal Kohl ja abgewählt und ein "rot-grüner" Aufbruch in neue Zeiten angesagt war).

Was war das für ein böses Erwachen. Erst da habe ich gemerkt, dass in diesem Staat etwas Fundamentales falsch läuft. Und dann kam eins zum anderen.

Zum Technischen: Darauf habe ich leider keinen Einfluss. :-) Das hat blogger.com zu verantworten. Ich kann mit meinem Browser (Opera) gar keine Kommentare erstellen - wenn ich das versuche, was oft genug passiert ist, lädt die Seite einfach neu, aber der Text ist weg. Deswegen muss ich alle Kommentare in den IE auslagern. Seit ich das Problem kenne, kopiere ich alle Kommentare erst in die Zwischenablage, bevor ich sie poste - so kann ich sie auch schnell wieder rekonstruieren, wenn so ein Problem auftritt. :-)

Mrs. Mop hat gesagt…

Kannste mal sehen. Auch ich hielt mich dereinst für erfolgreich und daher unverwundbar. Ich glaube, dieser einmal erreichte Status ist der Schlüssel zu den gebetsmühlenhaft wiederholten Fragen, warum, ja warum bloß die Leute das herrschende System samt seiner Ideologie nicht in Frage stellen? Wobei 'erfolgreich' natürlich immer relativ zu sehen ist - es kann schon reichen, sein eigenes kleines Leben in (durchaus prekärer) Sicherheit zu wähnen, und schon gehen die Rolläden, vulgo Scheuklappen runter.

Ach, das Sein ist eine Turbolokomotive, und das Bewusstsein ist eine Schnecke...;)

Mrs. Mop hat gesagt…

Technik:
Seit mir das zum ersten Mal hier passiert ist, bunkere ich grundsätzlich meine Kommentare erst mal offline. Jedenfalls dann, wenn ich wieder mal im Begriff bin, dein Blog ausufernd zuzusenfen...;)

Charlie hat gesagt…

Turbolokomotive und Schnecke ... Du hast ja wieder schöne Analogien parat. ;-) Aber Du hast vermutlich recht. Leider.

Senfe bitte weiter, trotz aller technischen Probleme! :-)

Mrs. Mop hat gesagt…

Schon passiert. Andernorts. :)