Donnerstag, 17. Februar 2011

Die Postdemokratie oder: Orwell für Ungläubige

Nach dem Grundgesetz beansprucht die Bundesrepublik, eine deutsche demokratische Republik zu sein, und die Idee der Demokratie wiederum fußt auf der Vorstellung, dass der "Wille des Volkes" Grundlage und Maßstab für das Handeln der Politiker ist. In Artikel 20 Absatz 2 Grundgesetz heißt es daher: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." (...)

Postdemokratie ist dem britischen Soziologen Colin Crouch zufolge durch vier grundlegende Merkmale charakterisiert. Erstens - demokratische Rituale und Institutionen bestehen zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen fort und funktionieren - oberflächlich betrachtet - so, als wären sie das tragende Skelett des Staates, tatsächlich sind sie aber für die tatsächlichen politischen Entscheidungsprozesse nahezu irrelevant. Damit korrespondiert zweitens, dass Parteipolitik und Wahlkämpfe von den Inhalten der späteren Regierungspolitik weitgehend entkoppelt sind. Personalisierte Wahlkämpfe dominieren anstelle gesellschaftlicher Debatten über Alternativen der Entwicklung des Gemeinwesens. Drittens - der konkrete Inhalt der Politik wird hinter den Kulissen, im Zusammenwirken von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern, bestimmt. Und daraus folgt viertens, dass das Volk zwar nicht de jure, aber sehr wohl de facto entmachtet ist. "Alle Staatsgewalt geht ..." wird damit zur leeren, lediglich deklarativen Hülle und zur Reminiszenz an eine Zeit, die es als solche vielleicht nie gegeben hat. Claudia Ritzi und Gary S. Schaal von der Bundeswehrakademie in Hamburg resümierten in einem höchst lesenswerten Essay in der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte" der Wochenzeitung Das Parlament: "Postdemokratie ist ... eine Scheindemokratie im institutionellen Gehäuse einer vollwertigen Demokratie."

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Anmerkung: Gemessen an der Definition Crouchs ist es unzweifelhaft, dass Deutschland heute ein postdemokratischer Staat ist - wobei das Wörtchen "post" (lat. für zeitlich "nach") etwas irritiert, da es eine vorhergehende, wirkliche Demokratie ja voraussetzt, die nach meiner Wahrnehmung so aber nie existiert hat. Doch das nur am Rande.

Es stellt sich nun also die Frage: Was kommt nach der Post- bzw. Scheindemokratie - oder ist sie gar der statische Endpunkt der gegenwärtigen Entwicklung, wie Orwell es in seinem Roman "1984" beschrieben hat? Ich schwanke in meiner Einschätzung doch immer wieder hin und her und werde durch aktuelle Ereignisse immer wieder auf die eine oder andere Seite geschickt. Nur zwei Beispiele: Vor 1989 hätte ich es in absehbarer Zeit nicht für möglich gehalten, dass die Menschen in der DDR in Massen auf die Straße gehen und einen solchen Umsturz in die Wege leiten. Dass sie sich damit vom Regen in die Traufe begeben und die Beschleunigung der kapitalistischen Zerstörung befeuert haben, steht auf einem anderen Blatt. - Genauso haben mich die vehementen Proteste der Menschen in der arabischen Welt in den letzten Wochen vollkommen überrascht. Vielleicht ist auch der deutsche Michel ja doch noch für die eine oder andere Überraschung gut?

Dazu müsste sich allerdings erst einmal in weiten Teilen der Bevölkerung die Nachricht von der Postdemokratie herumsprechen, so wie es in der DDR ja auch allgemein bekannt war, dass man nicht in einer Demokratie lebt: Das Grundgesetz ist Makulatur, Parteien und Wahlen sind Makulatur - und die Staatsgewalt geht von allem Möglichen aus, aber gewiss nicht vom "Volke" oder dessen Willen. Diese Erkenntnis dürfte auf breiter Ebene schwer vermittelbar sein - sogar dann, wenn die meisten Menschen ja genau spüren, dass es so ist. Genau das ist der Punkt, der mich immer wieder zu Orwell zurückbringt - trotz der gegenwärtigen Aufstände in Nordafrika. Am Ende siegt immer die Lüge - oder kennt jemand ein Beispiel aus der Geschichte, wo das anders verlaufen ist? Mir fällt keines ein.

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