Montag, 13. Oktober 2014

Zitat des Tages: Flockenfall


Es hat geschneit, mein Leben zugeschneit.
Hat zugeschneit,
zur Ruh geschneit,
was gestern war, Vergangenheit,
was ich vergaß, was ich besaß,
besaß und dennoch nie besaß:
die Kindheit und der Jugend Zeit,
Hass, Liebe, das erlittne Leid ...
(Das zugefügte liegt schon weit,
so weit vielleicht, dass nie ein Schnee
es decken wird. Wer weiß das je ...)
Und weiter schneit es und begräbt,
was sich nur noch als Hügel hebt,
darunter ich begraben hab
der Wünsche viel im Massengrab:
die Hoffnung auf Gerechtigkeit,
Vernunft, auf Frieden allezeit,
ein reines Bett für jedermann ...
ist alles, alles zugeschneit,
ist zugeschneit,
zur Ruh geschneit.

So wäre dann, was jeder haben kann
zu seiner Zeit
und keiner Zeit
das reine Bett Vergessenheit ...
in dem ihm endlich Ruh gedeiht,
in dem er ruht und doch nicht ruht;
denn immer ist sein Fuß beschuht,
und immer, wie die Flocke treibt,
des Vogels Fittich Spannung bleibt,
sind wir im Fallen, sind der Fall
der Flocken hier und überall,
sind eine leichte Flocke Schnee,
die diesen Ort seit eh und je
geschlechterweis im Fall bedeckt
und die kein zweiter Frühling weckt.
Denn wo wir sind, ist dünne Luft,
und wo wir landen, ist schon Gruft.
Nicht mehr als eine Flocke breit
so schnein wir zu, was zugeschneit,
und sind bald selber zugeschneit,
sind zu
und sind zur Ruh geschneit.

(Rudolf Hagelstange [1912-1984], in: "Zwischen Stern und Staub. Gedichte", Insel 1953)


Anmerkung: Auch Hagelstange gehört zu den hunderten von AutorInnen der Nachkriegszeit, die in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten konsequent dem kollektiven Vergessen preisgegeben wurden - es ist ein unerhörter literarischer Schatz, der da allein in deutschsprachigen Landen in Gänze zu verloren gehen droht. Ich will hier gewiss keine wilden Verschwörungstheorien bemühen - aber die gängige "marktwirtschaftliche" Erklärung (so sie denn überhaupt auf die Literatur angewandt werden sollte oder auch nur darf - aber das ist ein anderes Thema), nach der das "Alte" eben vom "Neuen", gar "Besseren" ersetzt werde, zieht hier einmal mehr nicht: Wo sind denn all die "neuen" LyrikerInnen, ErzählerInnen, DramaturgInnen unserer heutigen Zeit, die auch nur ansatzweise eine vergleichbare kritische Qualität aufzuweisen haben?

Mich erinnert das - wenn auch etwas zeitversetzt, also "in die Länge gezogen" - an das Los so mancher ehemals sehr erfolgreicher, sogar populärer Schriftsteller aus der Zeit des expressionistischen Jahrzehnts zu Beginn des 20. Jahrhunderts, von denen so viele nur zwei, drei Dekaden später (und damit oft noch zu ihren Lebzeiten) dasselbe Los erlitten haben. Wer kennt heute beispielsweise noch einen Walter Hasenclever, der einstmals als Begründer des expressionistischen Dramas und der neuen politischen Lyrik galt und der bis ca. 1920 im deutschsprachigen Raum etwa so populär war wie es heute ein Michael Schumacher ist? Abgesehen von einigen alten literaturwissenschaftlich Interessierten wohl niemand, nehme ich an. Hasenclever, ein Freund Tucholskys, musste nach 1933 miterleben, wie auch seine Bücher verboten und verbrannt wurden und floh danach aus Deutschland. Auch er nahm sich, wie Tucholsky, kurze Zeit später im Exil das Leben.

Heute allerdings ist es nicht mehr nötig, theatralische Bücherverbrennungen von unliebsamen Werken aus der Nachkriegszeit durchzuführen - die AutorInnen sind größtenteils sowieso bereits verstorben und ihre Bücher auch ohne offensichtliche Repressionen aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Das ist die "marktwirtschaftliche" Version der Bücherverbrennung: Das "kennt niemand" (weil es nicht neu aufgelegt oder in Anthologien nicht berücksichtigt wird), das "will niemand" (weil es eben deshalb niemand mehr kennt), das ist also "irrelevant" (weil es nicht in den kapitalistischen Zeitgeist passt).

Auch literarisch sind wir dem Jahr 1933 bedenklich nahe.

Als ich in den 80ern ein junges Bürschlein war, habe ich mich glühend für die Lyrik des so weit entfernten expressionistischen Jahrzehnts interessiert - ob es heute wohl auch junge Menschen gibt, die ein ebenso glühendes Interesse beispielsweise an der Lyrik der Nachkriegszeit entwickeln? Ich bin damals von außen dazu angestoßen worden, das zu tun (Schule, Bücher, Umfeld) - und wie ist das heute?

Oder haben die neuen, flammenlosen Bücherverbrenner bereits gewonnen?

2 Kommentare:

Lukian hat gesagt…

Gewonnen nicht, aber es wird zusehends schwieriger, nicht in einem Netz von belanglosen Informationen zu ertrinken.


Danke für deine regelmäßigen Beiträge dagegen.

Charlie hat gesagt…

Danke für Deine Rückmeldung dazu.