Dienstag, 7. Juli 2015

Zitat des Tages: "Heroische Landschaft" - und ein Brief an Hitler


Nun sticht die Zwergin Nacht mit schwarzem Pfahl
das Sonnenauge aus der Himmelsstirne,
dass es verblutend aus dem wehen Hirne
hintropft. Erblindet schreit in ihrer Qual

die Erde auf. Um offne Gräber knien
die Palmen, und sie werfen voll Verzagen,
wie Klageweiber ihre Brüste schlagen,
die Zweige schluchzend in der Winde Glühn.

Im Schilf verröcheln mit geborstnen Speeren
des Tempels Säulen, wo im Aas der Sümpfe
ein Lachen schielt. Die toten Städte stehn

im Sande auf. Sie zeigen ihre Schwären
und heben stumm die blutigen Mauerstümpfe,
wie Bettler, die um eine Münze flehn.

(Armin Theophil Wegner [1886-1978], in: "Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Von den Wegbereitern bis zum Dada", hg. von Gottfried Benn, erstmals Limes 1955; geschrieben 1916, Ort der Erstveröffentlichung ohne weitere Recherche nicht ermittelbar)

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Statt einer Anmerkung will ich hier aus einem Brief des pazifistischen Dichters an Adolf Hitler vom 11. April 1933 zitieren. Dort schreibt Wegner, der 19 Jahre zuvor - zu Beginn des ersten Weltkrieges - zunächst als freiwilliger Sanitätssoldat nach Kleinasien kam und dort Augenzeuge des Völkermords wurde, den die mit dem deutschen Kaiserreich verbündeten Türken an den Armeniern verübten, was ihn zu dem oben zitierten Sonett mit dem bitterbösen ironisch-sarkastischen Titel "inspiriert" hat, unter anderem:

Es ist kein Zufall, dass so viele Juden auf deutschem Boden leben – es ist eine Folge gemeinschaftlichen Schicksals! Auf ihrer Wanderung durch die Jahrhunderte, von Spanien vertrieben, von Frankreich nicht aufgenommen, hat Deutschland diesem unglücklichen großen Volke seit einem Jahrtausend Obdach geboten. (...) Wenn Deutschland groß in der Welt wurde, so haben auch die Juden daran mitgewirkt. Haben sie nicht durch alle Zeiten sich dankbar für das Obdach erwiesen? (...)

Herr Reichskanzler, es geht nicht um das Schicksal unserer jüdischen Brüder allein, es geht um das Schicksal Deutschlands! (...) Das Judentum hat die babylonische Gefangenschaft, die Knechtschaft in Ägypten, die spanischen Ketzergerichte, die Drangsal der Kreuzzüge und sechzehnhundert Judenverfolgungen in Russland überdauert. Mit jener Zähigkeit, die dieses Volk alt werden ließ, werden die Juden auch diese Gefahr überstehen – die Schmach und das Unglück aber, die Deutschland dadurch zuteil werden, werden für lange Zeit nicht vergessen sein! Denn wen muss einmal der Schlag treffen, den man jetzt gegen die Juden führt, wen anders als uns selbst? (...)

Hundert Jahre nach Goethe, nach Lessing kehren wir zu dem härtesten Leid aller Zeiten, zu dem blinden Eifer des Aberglaubens zurück. Besorgnis und Unsicherheit nehmen zu, die überfüllten Züge in das Ausland, Verzweiflungsklagen, Schreckensauftritte, Selbstmorde! (...) Denn was muss die Folge sein? An die Stelle des sittlichen Grundsatzes der Gerechtigkeit tritt die Zugehörigkeit zu einer Art, zu einem Stamm. (...) Haben die Deutschen besser gehandelt? Beklagen sich nicht die Schatzmeister der großen Geldvermögen nur deshalb über die jüdischen, weil sie selbst an ihre Stelle treten wollen? Haben denn die deutschen Bürger die Zinsen ihrer Guthaben und Häuser herabgesetzt? Ich bestreite diesen törichten Glauben, dass alles Unglück in der Welt von den Juden herrühre. (...) Herr Reichskanzler! Aus der Qual eines zerrissenen Herzens richte ich diese Worte an Sie: Schützen Sie Deutschland, indem Sie die Juden schützen. (...) Führen Sie die Ausgestoßenen in ihre Ämter zurück, die Ärzte in ihre Krankenhäuser, die Richter auf das Gericht, verschließen Sie den Kindern nicht länger die Schulen, heilen Sie die bekümmerten Herzen der Mütter, und das ganze Volk wird es Ihnen danken.

Es versteht sich von selbst, dass Wegners Schriften ab 1933 verboten wurden und der zu seiner Zeit durchaus bekannte Dichter unverzüglich inhaftiert und gefoltert wurde. Es ist lediglich glücklichen Zufällen zu verdanken, dass er dennoch überleben und ins Exil flüchten konnte, wo er wie so viele andere seiner LeidensgenossInnen im kollektiven Vergessen eines barbarischen Zeitalters und seiner lernresistenten Nachkommen versank.

Einige zusätzliche Informationen gibt's beispielsweise hier - und den sehr lesenswerten Gedichtband "Das Antlitz der Städte" des Dichters aus dem Jahr 1917 kann man hier kostenlos im pdf-Format abrufen.



(Armin-T.-Wegner-Büste der armenischen Bildhauerin Alice Melikian, Gymnasium an der Bayreuther Straße, Wuppertal)

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