Donnerstag, 13. August 2015

Zitat des Tages: Keiner blickt dir hinter das Gesicht


Niemand weiß, wie arm du bist ...
Deine Nachbarn haben selbst zu klagen.
Und sie haben keine Zeit zu fragen,
wie denn dir zumute ist.
Außerdem, - würdst du es ihnen sagen?

Lächelnd legst du Leid und Last,
um sie nicht zu sehen, auf den Rücken.
Doch sie drücken, und du musst dich bücken,
bis du ausgelächelt hast.
Und das Beste wären ein Paar Krücken.

Manchmal schaut dich einer an,
bis du glaubst, dass er dich trösten werde.
Doch dann senkt er seinen Kopf zur Erde,
weil er dich nicht trösten kann.
Und läuft weiter mit der großen Herde.

Sei trotzdem kein Pessimist,
sondern lächle, wenn man mit dir spricht.
Keiner blickt dir hinter das Gesicht.
Keiner weiß, wie arm du bist ...
(Und zum Glück weißt du es selber nicht.)

(Erich Kästner [1899-1974]: "Keiner blickt dir hinter das Gesicht (Fassung für Beherzte)", in: "Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke", Atrium 1936)


Anmerkung: Dieses kleine Büchlein, das eine Auswahl von Kästners Gedichten enthält, wurde erstmals im furchtbaren Jahr 1936 in der Schweiz veröffentlicht, während der Autor sich weiterhin in Dunkeldeutschland aufhielt und sich mit den zunehmenden Schikanen und Verfolgungen der Nazibande herumzuschlagen hatte. Es verwundert nicht weiter, dass dieses Gedicht heute wieder brandaktuell ist und den Zustand der zerfallenden bzw. von interessierter Seite einmal mehr bewusst zur Zerstörung freigegebenen Gesellschaft heute ebenso trefflich beschreibt wie damals.

Eine besondere "Berühmtheit" erlangte das Büchlein durch Marcel Reich-Ranicki, der 1999 in seiner Autobiographie darüber berichtet. Die FAZ dazu: "Für den jungen Marcel Reich war die 1936 in Zürich erschienene Sammlung von Gedichten Kästners, auf die er bei einem Bekannten im Warschauer Getto stieß, ein glücklicher, gänzlich unerwarteter Fund. In seiner Autobiographie 'Mein Leben' hat Reich-Ranicki festgehalten, was der damals Zwanzigjährige nach der Lektüre der ersten Seiten empfand: 'Ich wollte dieses Buch unbedingt haben.' Aber es war im Getto nicht zu bekommen. Reich-Ranickis Wunsch ging dennoch in Erfüllung: Teofila Langnas, die junge Tochter eines Nachbarn, der sich aus Verzweiflung im Getto das Leben genommen hatte, schrieb 56 der insgesamt 119 Gedichte mit der Hand ab, versah die Seiten mit eigenen Zeichnungen und heftete sie sorgfältig zusammen." - Dieses Zeitdokument hat die finsteren Zeiten überdauert und wurde im Jahr 2000 erstmals publiziert.


4 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

tolles Gedicht, spricht mir in meiner momentanen Stimmung aus dem Herzen.
Und danke für die kleine zusätzlichen Infoschnipselchen, sowas liebe ich ja.
:-)
schönen Gruß

Eike Brünig hat gesagt…

So sehr ich Kästner mag.....das Gedicht klingt, wie ein Lob auf das Hamsterrad. Wie ein SPD-Sprecher über den eigenen Parteitag. Nö! Realisten sind nich immer Pessimisten und wer Scheiße nicht konkret benennt, wird sie später fressen müssen.

Charlie hat gesagt…

@ Eike: Ich halte mich meist mit allzu offensichtlichen Interpretationsansätzen zu den Gedichten, die ich hier einstelle, ja wohlweislich zurück, weil ich niemandem die "eigene Lesart" verbauen möchte. Deine Meinung zu diesem Kästner-Text erstaunt mich aber dennoch sehr, da ich es eigentlich für ausgeschlossen gehalten habe, dass er so (miss-)verstanden werden könnte.

Ohne ins Detail gehen zu wollen, möchte ich auf nur vier Punkte hinweisen, die zum Verständnis wesentlich beitragen können:

1. Das Büchlein ist 1936 im "Ausland" erschienen, während Kästner in Deutschland nicht mehr publizieren durfte und teils scharfen Repressionen ausgesetzt war.
2. Kästner war - und dieses Gedicht ist ein Paradebeispiel dafür - unter anderem Satiriker.
3. Der letzte, in Klammern gesetzte Satz des Gedichtes gibt einige Hinweise darauf, wen der Autor hier wohl gemeint haben könnte.
4. Das Wörtchen "arm" muss sich nicht auf materielle Armut beschränken. Besonders deutlich wird das an dem Gedicht mit demselben Titel in der "Fassung für Kleinmütige".

Zum Thema Pessimismus bzw. Realismus bemühe ich der Einfachheit halber hier Heiner Müller:

"Optimismus ist nur ein Mangel an Information." :-)

Liebe Grüße!

Eike Brünig hat gesagt…

Ich lese sonst auch Satire. Vielleicht ist diese Überinterpretation auch mein gerade nicht so guten Laue geschuldet.