Alles in dieser Stadt ist gegen das Schöpferische, und wird auch das Gegenteil immer mehr und mit immer größerer Vehemenz behauptet, die Heuchelei ist ihr Fundament, und ihre größte Leidenschaft ist die Geistlosigkeit, und wo sich in ihr Phantasie auch nur zeigt, wird sie ausgerottet. Salzburg ist eine perfide Fassade, auf welche die Welt ununterbrochen ihre Verlogenheit malt und hinter der das (oder der) Schöpferische verkümmern und verkommen und absterben muss.
Meine Heimatstadt ist in Wirklichkeit eine Todeskrankheit, in welche ihre Bewohner hineingeboren und hineingezogen werden, und gehen sie nicht im entscheidenden Zeitpunkt weg, machen sie direkt oder indirekt früher oder später unter allen diesen entsetzlichen Umständen entweder urplötzlich Selbstmord oder gehen direkt oder indirekt langsam und elendig auf diesem im Grunde durch und durch menschenfeindlichen architektonisch-erzbischöflich-stumpfsinnig-nationalsozialistisch-katholischen Todesboden zugrunde.
Wahrscheinlich ist in Internaten und vornehmlich in solchen unter den extremsten menschensadistischen und naturklimatischen Bedingungen wie in der Schrannengasse das Hauptthema unter den Lernenden und Studierenden, unter den Zöglingen kein anderes als das Selbstmordthema, alles andere also als ein wissenschaftlicher Gegenstand, ein solcher Gegenstand nicht aus der Studienmasse heraus, sondern aus dem ersten, alle gemeinsam am intensivsten beschäftigenden Gedanken heraus, und der Selbstmord und der Selbstmordgedanke ist immer der wissenschaftlichste Gegenstand, aber das ist der Lügengesellschaft unverständlich.
Die Lern- und Studierzeit ist vornehmlich eine Selbstmordgedankenzeit, wer das leugnet, hat alles vergessen. Wie oft, und zwar hunderte Male, bin ich durch die Stadt gegangen, nur an Selbstmord, nur an Auslöschung meiner Existenz denkend und wo und wie ich den Selbstmord (allein oder in Gemeinschaft) machen werden, aber diese durch alles in dieser Stadt hervorgerufenen Gedanken und Versuche haben immer wieder zurück in das Internat, in den Internatskerker geführt. Ein Geistlicher hat in einer solchen, dem Stumpfsinn des Katholizismus vollkommen ausgelieferten und von diesem katholischen Stumpfsinn vollkommen beherrschten Stadt, die dazu in dieser Zeit auch noch eine durch und durch nazistische Stadt gewesen ist, bei einem Selbstmörderbegräbnis nichts zu suchen.
Der ausgehende Herbst und das in Fäulnis und Fieber eingetretene Frühjahr haben immer ihre Opfer gefordert, hier mehr als anderswo in der Welt, und die für den Selbstmord Anfälligsten sind die jungen, die von ihren Erzeugern und anderen Erziehern alleingelassenen jungen Menschen, die lernenden und studierenden und tatsächlich immer nur in Selbstauslöschung und Selbstvernichtung meditierenden, für welche einfach noch alles die Wahrheit und die Wirklichkeit ist und die in dieser Wahrheit und Wirklichkeit als einer einzigen Fürchterlichkeit scheitern.
(Auszüge aus: Thomas Bernhard [1931-1989]: "Die Ursache. Eine Andeutung", Residenz Verlag 1975)
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