Mittwoch, 20. Oktober 2010

Über den Wohlfahrtsstaat und seine Zerstörung

  1. (...) Der moderne Wohlfahrtsstaat ist mitgefangen im großen gesellschaftlichen Krisengeschehen namens Kapitalismus, aber dabei auch ganz schön eigeninitiativ – und liegt damit durchaus im Trend der Zeit: Bildungsungleichheiten beklagen, sie zugleich aber fortschreiben und liberalinterventionistische Scheinlösungen (wie auf Wohlfahrtsmärkten einzulösende Gutscheine etwa) anbieten; Aktivität einfordern, aber die materiellen und immateriellen Grundlagen für deren Ausübung systematisch einschränken; Solidarität beschwören, aber faktisch gutbürgerliche Ressentiments und umgekehrten Sozialneid gegen die "überversorgten" Staats-"Klienten" schüren; den gesellschaftlichen Zusammenhalt einklagen und dabei an bürgerschaftliches Engagement, Freiwilligenagenturen, soziale Pflichtjahre und ähnliche mittelschichtsfreundliche Harmonieszenarien denken, nicht aber an die ganz realen desintegrativen Effekte einer rasant wachsenden Einkommens- und einer geradezu absurden Vermögensungleichheit (und an mögliche Maßnahmen einer regulativen Gegensteuerung). Der Wohlfahrtsstaat kann durchaus Gesellschaft gestalten – sicher nicht immer, wie er will, aber doch immer so, dass die Gesellschaft es zu spüren bekommt. In seiner aktuellen Krise hat er, haben die in seinen Institutionen handelnden Personen sich dafür entschieden, die sozialen Verhältnisse hierzulande ungleicher werden zu lassen: Wer hat, dem soll gegeben werden. In diesem Wohlfahrtsstaat werden Bildungsarme auch in Zukunft massiv reduzierte Lebenschancen haben. Und die Gruppe der Bildungsarmen wird sich nach wie vor zu großen Teilen aus migrantischen Milieus rekrutieren. In diesem Wohlfahrtsstaat werden Langzeitarbeitslose auch in Zukunft unter administrativen Druck gesetzt werden, obwohl doch das gesellschaftliche Problem in einem eklatanten Unterangebot an "guter Arbeit" besteht. In diesem Wohlfahrtsstaat werden die Menschen in Zukunft selbst ihren späten Renteneintritt noch teuer bezahlen müssen, weil sie eben nur als "produktive" Kräfte gesellschaftlich – und sozial-politisch – noch etwas zählen.

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  2. Zwanzig Jahre nach dem 3. Oktober 1990 ist auch der deutsche Sozialstaat nicht mehr wiederzuerkennen. Gewiss, so genannte Reformen gab es schon vorher, und immer mehr liefen sie schon damals aufs Sparen hinaus, auf die Rücknahme von Sozialleistungen oder auf deren gänzlichen Abbau. Mit dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten begann trotz allem aber eine neue Phase von Sozialreformen, denen ein völliger Paradigmenwechsel zugrundeliegt und die zu einer Umgestaltung des Sozialstaats geführt haben, die in ihrem Vorfeld nicht ohne weiteres absehbar gewesen ist.

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Anmerkung: Es ist viel gesagt, geschrieben und gelogen worden zu diesem Thema, und man darf nicht müde werden, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die bewusste und gewollte Zerstörung des Sozialstaates ein Kernziel der neoliberalen Ideologie war und ist, das willfährig von der SPD, den Grünen, der CDU und natürlich der FDP vorangetrieben wurde und wird. Daran hat sich bis heute - trotz teils anderslautender Propaganda aus Regierungs- und Oppositionskreisen - nichts geändert.

Wie kann angesichts der Zerstörungen, die Hartz IV, die Demontage der gesetzlichen Rente, die Pervertierungen des Gesundheitssystms und viele andere Deformationen mehr angerichtet haben und weiter anrichten, irgendein Bürger noch diese Parteien wählen? Immer und immer wieder zeigen sie uns deutlich ihr wahres, hässliches Antlitz und treten den Menschen dreist und unverfroren ins Gesicht, während sie der "Elite" schamlos Geld, Privilegien und Macht zuschanzen - immer in der berechtigten Hoffnung, dafür persönlich fürstlich entlohnt zu werden.

Es ist zum Speien.

2 Kommentare:

Heiko hat gesagt…

Und was soll man deiner Meinung nach tun? Über alles meckern kann jeder, aber brauchbare Vorschläge, die dieses System ohne Krieg überwinden (und das sollte das Ziel sein) gibt es kaum. Ich kann deiner Anmerkung voll und ganz zustimmen, aber mir fehlt die Alternative...

Charlie hat gesagt…

Welche Alternative gibt es zur Korruption - ist das tatsächlich deine Frage? ;-) - Schau zu den lieben Nachbarn nach Frankreich, nach Italien, nach Griechenland, nicht zuletzt auch nach Island - die machen uns vor, was allerspätestens jetzt auch in Deutschland angesagt wäre. Am Beispiel Stuttgart lässt sich ablesen, welches Potenzial da schlummert.

Des weiteren gibt es vieles, was man im ganz persönlichen Bereich tun kann: Man muss mit den Menschen reden, sie informieren, auf Quellen hinweisen, ihnen klarmachen, dass sie von vorne bis hinten belogen, verarscht und ausgebeutet werden. Man kann im persönlichen Umfeld nicht-profitorientiert handeln und damit Zeichen gegen die Ökonomisierung setzen. Man kann einer Partei oder einer Organisation wie attac oder der Humanistischen Union (oder welche auch immer dem eigenen Denken am nächsten liegt) beitreten und sich dort engagieren.

Und nicht zuletzt kann man anders wählen. Es gibt momentan zugegebener Maßen nur wenige sinnvolle Alternativen zum neoliberalen Einheitsbrei der rot-grün-schwarz-gelben Bande - aber mindestens eine dieser Alternativen dürfte für jeden Demokraten, der diesen korrupten Politsumpf genauso satt hat wie ich, wählbar sein. Wieso das bislang nur so wenige Menschen tun, obwohl der Unmut, ja sogar die Wut so weit verbreitet sind, ist mir ein Rätsel. Was könnten eine starke Linke und eine starke Piratenpartei wohl schlimmeres anrichten als es CDU, FDP, SPD und Grüne in den letzten 20 Jahren geschafft haben? Die beiden verdienen zumindest ihre Chancen in diesen Ruinen, die die neoliberale Bande hinterlässt, bevor man wieder ausschließlich auf eine neue APO setzt.

Schau nach Bolivien - auch dort entsteht gerade eine alternative Staats- und Gesellschaftsform. Es gibt genügend Modelle und Denkansätze, die dem marktfetischistischen Irrsinn entgegenstehen, auch wenn sie in unseren Propagandamedien kaum vorkommen.