Donnerstag, 4. Dezember 2014

Zitat des Tages: Bürger


Bürger,

nehmt euch in acht vor dem Fremden mit leichtem Gepäck!
Sein Blick durchschneidet die dickste Luft,
sein Blick durchstochert die dunkelsten Gassen,
ein Schabmesser, das an den Hauswänden kratzt,
ein Glasschneider, der die Fenster durchritzt,
eine Klinge, die zwischen Türspalten fährt,
ein Dolch, der aufspießt, was ihm begegnet.

Hütet euch, Kinder, vor seinem freundlichen Wort,
vor seinen Pfiffen, Bonbons und Tricks,
hütet euch vor seiner Flöte!

Nehmt euren Hut vors Gesicht, Bürger,
bevor euch sein Auge trifft,
zieht eure Ohren und Schwänze ein,
haltet den Mund, nicht den Dieb!

Bindet den Hund an die Leine
und fester den Helm, Polizisten!
Doch ich rate euch, nicht seinen Pass zu verlangen,
und macht seinen kleinen Koffer nicht auf!
Lasst ihn laufen, seid froh, wenn er läuft!
Lasst euren Knüppel im Sack!

Bürger, lasst auch den Esel im Stall
und den Tisch ungedeckt, wenn er naht.
Er schnappt euch den Bissen vom Teller,
er schlürft euch den Wein aus der Flasche
und beißt in die Gläser,
er frisst euch die Zeitungen aus der Hand
und kotzt sie zerkaut vor die Füße.

Bietet ihm keinen Stuhl an,
hängt euer Ruhetagsschild vor die Schenken,
Bürger, und staut euch nicht auf dem Steig!
Fallt nicht auf, fallt nicht um,
fallt ihm niemals ins Wort,
nicht in den Arm und nicht in den Schritt,
fallt ihm nur nicht auf die Nerven!

Schont eure Anlagen, Bürger,
lasst eure Steine im Glashaus,
die Katzen im Sack,
und schüttet die offenen Gruben zu!

Prüft eure Blitzableiter, die Feuermelder,
prüft eure Leitungen, Drähte und Schläuche,
schaltet den Strom ab, das Gas und das Denken,
dreht eure Hähne zu und verbergt eure Küken!

Steckt eure Frauen in Lederjacken,
schützt ihre Blusen vor seinem Messer,
und rührt euch nicht, wenn er schon schlitzt.
Steht still! Aber geht, wenn er geht,
und seht ihm nicht nach, seht ihn nicht an,
aber seht auch nicht auffällig weg!
Vermeidet alles, was provoziert,
tretet leise, fahrt Rad oder Auto,
doch leise - und produziert!

Steigert die Umsätze, Männer,
erhöht die Absätze, Frauen,
setzt eure Männer mit um!
Setzt eure Frauen und Kinder mit ab,
sichert euch Nachlass, sichert euch Ablass,
sichert euch und versichert euch,
und zahlt die Reststeuer pünktlicher,

BÜRGER!

(Wolfgang Bächler [1925-2007], in: "Die Erde bebt noch. Frühe Gedichte 1942-1957", Fischer 1988)



Anmerkung: Bächler hat dieses bemerkenswerte Gedicht einige Jahre nach der Veröffentlichung zu einem kurzen Prosa-Text mit dem Titel "Ein Fremder in der Stadt" umgeschrieben, der noch ein wenig deutlicher macht, wer mit jenem Fremden, dem die narkotisierte, verdummte und völlig verschreckte Bevölkerung hier begegnet, gemeint ist. Man muss Worte wie Kapitalismus, Raffgier oder Ausbeutung gar nicht benutzen, um sie bloßzustellen und zu kritisieren.

Vor knapp drei Monaten schrieb ich über den Autor: "Von Bächler ist die wunderbare Selbstbeschreibung überliefert: 'Ich bin ein Sozialist ohne Parteibuch, ein Deutscher ohne Deutschland, ein Lyriker ohne viel Publikum ... kurzum ein unbrauchbarer, unsolider, unordentlicher Mensch, der keine Termine einhalten und keine Examina durchhalten kann und Redakteure, Verleger und Frauen durch seine Unpünktlichkeit zur Verzweiflung bringt.' Ich wüsste nicht, wie man sich mit so wenigen Worten noch besser und sympathischer vom hochglänzenden Lügenterror der neoliberalen Bande und ihrem faschistoiden Menschenbild abgrenzen könnte."

Selbstverständlich ändert das nichts daran, dass wir inmitten eines apokalyptischen, menschenfeindlichen Albtraumes leben, aus dem es keinen gangbaren Ausweg zu geben scheint. Es ist aber, wie ich finde, zumindest hilfreich zu bemerken, dass es in der Vergangenheit Menschen gab, die das ebenfalls in aller Deutlichkeit registriert hatten.

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